Montag, 19. Oktober 2015

Schuld - und Sühne?

Am 17.10. hatte ich die tolle Gelegenheit, mir das aktuellst Stück der Performance Gruppe-RAMPIG anzusehen. Sie haben sich mal wieder selbst übertroffen. Mit "Schuld (und Sühne)" haben sie eine intensive und atemraubende Produktion entwickelt. Eine Performance, die nur von eleganten, geschickten, witzigen, verstörenden, subtilen Querverweisen auf "Schuld und Sühne" (bzw. "Verbrechen und Strafe") von Dostojewski - aber auch auf andere Werke von Dostojewski, sowie vieles andere aus der russischen und sowjetischen (Pop-)Kultur - wimmelt.
Ich konnte es mir nicht nehmen lassen, dazu etwas zu schreiben. Und, wie schon zu Permafrost, gibt es wieder zwei Rezensionen. Eine - eher im journalistisch-publizistischen Stil (die ihr hier findet), eine - eher als persönlicher, pseudoliterarischer Antworttext (kommt noch).

Mein Henker und ich - jenseits von Illusionen

Die Performance findet auf dem verlassenen Kasernengelände des Benjamin-Franklin-Village statt, in einer Geisterstadt am Waldrand. Wir versammeln uns am Tor – 8 Menschen, von denen sich die meisten untereinander nicht kennen. Eine Schicksalsgemeinschaft irgendwie. Ein kleiner Bus holt uns ab. Der Fahrer spricht nicht mit uns, antwortet auf Fragen nur in knappen Sätzen auf Russisch. Es dröhnt unangenehm laut schlechter russischer Techno. Party-Stimmung will allerdings nicht einsetzen. Zu unbehaglich ist es auf dieser Fahrt ins Ungewisse. Die Videoaufnahmen von Wald und Natur, die auf einem Bildschirm im Bus laufen, wirken auch nicht Ruhe stiftend, sondern bedrohlich. Ein Käfer zappelt hilflos auf dem Rücken. Ein Schuh zerquetscht einen Frosch und der Rückwärtsgang des Videos versucht vergebens es wieder ungeschehen zu machen. Wir kommen an. Eine verstört und zerzaust aussehende Frau rennt neben dem Bus her, schreit, haut gegen die Scheiben. Sie ist es auch dann, die kurze Zeit später die einleitenden Worte zur anstehenden Reise ins Gebäudeinnere an uns richtet. Wie eine Begrüßung fühlt es sich nicht an. Der Ratschlag, der sich für mich am meisten bewährt hat, war: „Lasse alle Illusionen zurück.“ Wer sich an Illusionen klammernd in den ehemaligen Supermarkt begibt, den die RAMPIGs für diese Performance bezogen hatten, wird nur noch mehr verletzt werden, wenn sie dann mit großer Wucht zerschlagen werden und unwiederbringlich zerbersten. Wie durch eine Axt.

Drinnen wandern wir als kleine Zuschauer*innen-Gruppe von Raum zu Raum, immer wieder gelockt (oder vielleicht auch verlockt?) von den Performer*innen. Dunkel sind die Gänge, mit vielen verwinkelten Nebenfluren, die schiere Anzahl der Türen verdeutlicht, wie leicht es ist, sich hier zu verirren. Ohne die Performer*innen, die uns immer wieder die Richtung weisen, wären wir hier wohl verloren. Rasch setzt sich ihnen gegenüber ein Gefühl der Abhängigkeit ein, des Ausgeliefert-Seins. Teilweise auch eins der Angst. Zum Beispiel wenn ein Mann mit Wahnsinn im Blick von einem Ritual erzählt, bei dem sich Männer mit Messern in Trance tanzen, bis einer sich als Opfer erweist und kollektiv ermordet wird. Seine Stimme wechselt – völlig unberechenbar – zwischen aufgebrauchtem Blutrausch und schüchtern-verharmlosenden Ausführungen. Dabei lässt er auf dem Tisch ein Messer kreisen, zeigt abwechselnd auf uns, ist auf der Suche nach dem Opfer in unserer Gruppe. Teilweise auch ein Gefühl des Mitleids. Zum Beispiel wenn ein zierliches Mädchen vor unseren Augen zitternd mit weit aufgerissenen Augen zusammenkauert, immer wieder angespannt hysterisch kichernd. Uns dann mit kindlicher Verzweiflung ein großes Einmachglas mit toten Mäusebabys entgegenstreckt und dann ganz in sich vertieft es streichelt.

Alle Räume sind mit Schuld erfüllt. Es ist schwer zu sagen, ob sie in der Luft hängt wie gelber Nebel oder an der Haut aller, die sich hier bewegen, klebt wie Spinnweben. In jedem Raum offenbart sich ein neues Gesicht der Schuld. Wahnsinn, der Menschen von innen aushöhlt. Unterwerfung bis zur Selbstverleugnung, bis man statt eines Menschen eine schlaffe Stoffpuppe mit leeren Augen vor sich sieht. Gewalt, ohne erkennbaren Grund. Mord. Körperlichkeit und Sexualität, denen jegliche Sinnlichkeit fehlt, sondern nur eine abstoßende Krudheit anhaftet. Verwesung, die nichts verschont. Verrat und Enttäuschung – der Familie, der eigenen Prinzipien. Einsamkeit.

Und noch zermürbender und bedrückender als die Schuld selbst, sind die verzweifelten Bemühungen, sie zu tilgen, die rastlose Jagd nach Vergebung. Sie sind alle vergeblich. Strafe gibt es zu genüge an diesem Ort. Sühne nicht. Denn wie will man sich denn vom Blut reinwaschen, wenn das Wasser schon tiefrot ist? Wie zur Erkenntnis gelangen, wenn die Äpfel zu Evas Füßen alle längst verdorben sind? Die Schuld lässt sich auch nicht leugnen. Egal wie angestrengt die junge Frau ein Kinderlied von Liebe und happy family singt, es entgleist zu einem verzweifelten Kreischen und der einsamen Gefangenschaft in einem leeren, fensterlosen Raum. Immer und immer wieder versuchen die Performer*innen sich selbst zu Auserwählten zu küren. Auserwählten, denen es zusteht, Richter und Henker zu sein. Doch dann scheitern sie an dieser Aufgabe. Zögern zu lange, erstarren immer wieder in hilflos-verzweifelter Regungslosigkeit. Versuchen fortzurennen, kriegen aber die Füße nicht vom Boden. Und werden unausweichlich von der Schuld eingeholt. Der Versuch, die Unterdrücker anzuspucken, scheitert immer wieder. Nach oben lässt sich eben schlecht spucken.

Viele, viele Räume. Unzählige Facetten der Schuld – verwinkelt und düster und verschachtelt wie der Raum selbst. Was sich jedoch nach einem Gang durch ein Museum oder Gruselkabinett anhört, erweist sich für uns Zuschauer*innen viel eher als Herausforderung, sich den Weg durch das Labyrinth zu bahnen, ohne sich dabei zu verlieren. Ein Labyrinth, das aller Bizarrheit zum Trotz bedrückend realitätsnah ist. Zuschauer*innen ist da auch bei näherer Betrachtung das falsche Wort. Wir schauen nicht nur zu, wir sind Teil der Szenen, die sich hier entfalten. Und werden dadurch zu Mittäter*innen, laden die Schuld des tatenlosen Zusehens, des Nicht-Eingreifens auf uns. Die Versuchung ist manchmal groß, zu trösten, vor Gewalt zu beschützen. Aber zu groß ist die Unsicherheit, die Unterwerfung gegenüber der Maschinerie dieses Mikrouniversums. Und haben wir zu Beginn nicht alle einen Bissen von der Henkersmahlzeit eines Serienmörders gegessen und uns damit einen Teil seiner Schuld wortwörtlich einverleibt? Nein, auch vor dieser Erkenntnis gibt es kein Entrinnen: schuldig sind wir alle. Das böse Prinzip tragen wir alle in uns.

Das Labyrinth entpuppt sich als das Ablaufen eines Lebenslaufs. Rückwärts, von Ende bis Anfang. Von der Hinrichtung – wohl die einzige Methode, die Schuld enden zu lassen – bis zur Geburt erforschen wir ein Leben, auf der Suche nach dem Punkt, an dem die Schuld begonnen hat. Wir finden ihn nicht. Die Schuld erstreckt sich durch das gesamte Leben. Sie fängt damit an, dass wir uns nicht an der Nabelschnur entlang zurück in den Mutterschoß gehangelt haben. Diese Chance verpasst habend, sind wir nun in dieser unwirtlichen Welt, ausgeliefert und einsam. Einsamkeit durchzieht hier alles. Es gibt keinerlei positive Interaktionen zwischen den Performer*innen. In der Schuld und im Schmerz ist sich jede*r selbst am nächsten. Andere Menschen und das Umfeld sind stets bei dem beteiligt, was eine*n zum Verbrechen getrieben hat. Mit der Schuld bleibt man jedoch alleine. Und so kommt es auch, dass man in den vorgetragenen Texten immer wieder Henkern begegnet, Hinrichtungen allgegenwärtig sind, man aber seinen eigenen Henker nie sieht. Außer beim Blick in den Spiegel. Ist nicht der am schwersten zu ertragende Anblick, der ins eigene Gesicht, die eigentliche Hinrichtung?

Das Verlassen des Labyrinths fühlt sich befreien an. Aber die nagende Leere und die drückende Schuld lassen sich nicht abstreifen. Es tat gut noch eine Weile in der Bar mit anderen Zuschauer*innen und Menschen vom Ensemble zu reden. Dem einsamen Rückweg durch das kalt-herbstliche, dunkle Gelände der toten Kaserne fühlte ich mich vorerst nicht gewachsen. Zu sehr spiegelte die Umgebung meine Gefühle von der Performance wider.