Mittwoch, 29. Februar 2012

Frühling


Die grüne Hölle, die vor meiner Tür und unter dem Fenster die Luft in Beschlag genommen hat, stellt sich scheinbar allen außer mir galant als “Frühling” vor. Die totgeglaubten Baumskelette verlieren ihre kahle Schwermut und bedecken sich mit einem leichtsinnigen Überwurf aus zarter, grüner Spitze. Wie von einem stummen Fanfarenruf getrieben, versammeln sich unsichtbare Kräfte zum Kampf gegen die Leere. Eine Schlacht in Zeitlupe bricht aus. Wie die Pocken einer verspielten Seuche bedecken weiße Blüten ganze Baumkronen, regnen in unbedachten Wasserfällen leichter, weißer Schuppen wieder herab.

Im ungeübten, übermütigen Sonnenlicht wirkt es tatsächlich wie die Erstaufführung eines brandneuen Spektakels, doch folgen ihr auch die Neider, umhüllt in dunkelgraue Wolkenmäntel. Wenn das Licht unter dem Himmelgrau erstickt, scheint der Frühling doch in jedem irrsinnigen Spross weiterzustrahlen, bis sich das unvermeidbare, dichte Nass darüber entleert. Die duftende, die dumpfe, die betörende Feuchtigkeit vermischt sich dann mit dem Atem von allem, was blüht und wächst, zum Nebel einer starken Droge. So viel Leben pulsiert und stöhnt überall, sich zu einer grünen Kakophonie vermischend. Viele leise Stimmen verweben sich zu einem undurchdringbaren Klangteppich, der von allen menschlichen Ohren ungehört bleibt.

Die Macht der Natur ist überwältigend. Die Regeln der Kühle, der Stursinn der glatten, leeren Felder – nichts bleibt, alles wird weggefegt von der langsamen, aber unaufhaltsamen Flut des Wucherns. Man bleibt doch so allein und verloren, ertrinkt in den Strömen aus allgegenwärtigem Leben. Das Grün erstickt jede andere Regung und man spürt, um Luft oder um Ruhe ringend, die Kraft, die in der schleichenden Expansion gebannt liegt. So viel Grün, so viele süßlich-schwere Düfte, die doch alle vom Neubeginn erzählen wollen und doch nicht den ihnen anhaftenden Hauch von Verwesung abschütteln können.

Die Hoffnung, die jedem keimenden Blatt zugrunde liegt, will alle vergessen lassen, was mit den gleichen Blättern im letzten Herbst passiert ist. Zu stark ist der Rausch des Vergessens, zu mächtig das Vorwärtsdrängen, als dass Gedanken an die Zukunft dazwischen überleben könnten, geschweige denn Gehör finden. Das Morgen gibt es nicht mehr, nach der langen Haft des Winters wird nun jede Stunde zur Henkersmahlzeit, zu einer Orgie aus letzten Wünschen. Es gibt nur noch die Gegenwart, das betörende Hier und das zuckende Jetzt, jede Sekunde schmilzt, zieht Fäden, verläuft und erstarrt dann zu bröcklig-spröden Stunden, die keiner Erschütterung Stand halten können.

Das Crescendo, das im Klangbauch dieser Tage heranwächst, versteckt sich genauso gut, wie die Wucht, mit der die Veränderungen alles verformen. Man denkt nur bis zur Kulmination, sieht nur das Leben, das als sanft vibrierender Kristallpalast erstrahlt, nicht aber den Schatten des Todes, der versteckt hinter der Bühne dieses Schauspiels ungeduldig auf und ab schreitet und darauf wartet, nach dem Fall des Vorhangs herauszukommen. Auch er hat den Winter im Verließ verbracht und hat Hunger. Unter der Herrschaft des Eises gibt es nur das Nicht-Leben, der Tod aber braucht den schwülen Brutkasten, der ihm seine Untertanen heranzüchtet.

Es bleibt einem nichts, als die wunden Lungen mit dem süßen Pestatem zu füllen und sich davon volltrunken in den Taumel der Verzauberten zu werfen. Lasst uns den Gleichschritt anstimmen in dieser schläfrigen Prozession, die Augen voller Ekstase gen Himmel gerichtet, um den Abgrund, der uns zu Füßen liegt, nicht doch noch zu sehen!

Nachtstudent

Nach meiner Job-Bezeichnung gefragt, antworte ich mit "Nachtstudent". Weil ich den Begriff, ja, griffig finde.
Manchmal sind es Sitzwachen wie die letzte Nacht (die übrigens sehr ruhig verlief; der Patient, den ich im Falle einer Panikattacke beruhigen sollte und bei dem ich verhindern sollte, dass er aus dem Bett steigt, schlief wider Erwarten die ganze Nacht durch, ich konnte dementsprechend Camus' "Die Pest" lesen). Meistens bin ich aber auf der Wachstation (man kann es sich als "Intensivstation light" vorstellen) eingesetzt. Gewissermaßen als Mädchen für alles - auf die Klingel gehen, Patienten lagern und waschen helfen, Müll wegbringen, Material aus dem Lager holen, Blut abnehmen. Und ich muss sagen, letzteres macht mir viel mehr Spaß. Einerseits, weil ich das Glück habe, nette Kollegen zu haben, die mich nicht ausbeuten, obwohl ich "nur" eine Hilfskraft bin. Andererseit weil ich mich da mal endlich nützlich fühle. Bei einer Sitzwache, wo ich vielleicht 2 Stunden wirklich eingreifen muss und die restlichen 6 Stunden nur lesen dasitze, habe ich ein schlechtes Gewissen, fürs Lesen bezahlt zu werden.
Und ich habe auch erst richtig begriffen, wie viel Spaß mein Job mir macht, als die Stationsleitung ankündigte, dass ich für den April und Mai Freizeitausgleich zum Abbau für Überstunden geplant habe. Ich muss zugeben, ich werde es vermissen, zwei Monate lang nicht zu arbeiten.

Selbstdisziplin

Ich war heute wieder laufen. Hört sich jetzt banal an, war es für mich aber nicht. Denn davor hatte ich aus gesundheitlichen Gründen eine zweiwöchige Pause einlegen müssen.
Sowas läuft bei mir immer nach einem ganz bestimmten Muster ab: erst will ich nicht einsehen, dass etwas so Bedeutungsloses, wie ein Schnupfen, eine Bänderzerrung, Sehnenreizung oder wunde Füße, mich von meinem Lauftraining abhalten sollte und mache stoisch weiter, dadurch verschlechtert sich mein Zustand und irgendwann (wenn ich Fieber habe oder kaum noch humpeln, geschweige denn rennen, kann) sehe ich ein, dass ich eine Pause einlegen sollte, um mich auszukurieren. Diese Pause geht dann so eine bis anderthalb Wochen.
Und dann kommt das eigentlich fiese. Ich gewöhne mich daran, meine Tage ohne die anderthalb bis zwei Stunden für das Laufen und anschließende Zu-Sich-Kommen zu verplanen. Und habe dann auf einmal keine Zeit mehr dafür. Und habe außerdem noch im Hinterkopf, dass ich ja jetzt nach anderthalb bis zwei Wochen Pause schon total außer Übung bin und deshalb mühevoll mein gesamtes Ausdauertraining von Vorne anfangen muss.

Mit anderen Worten: es hat Überwindung gekostet. Diese wurde dann aber mit dem Gefühl von "wenn ich jetzt geschafft habe, mir den entscheidenden Ruck zu geben, dann schaffe ich alles" entlohnte. Ein Hoch auf die Hybris!

Dienstag, 28. Februar 2012

Sitzwache

Und gleich geht es los zum Nachtdienst. Nicht der übliche Nachtdienst als Pflegehilfe auf meiner vertrauten Wachstation, sondern als Sitzwache.

Jedes Mal hoffe ich inständigst, dass ich nicht bei einem Sterbenden Wache halten darf. Bisher hatte ich Glück. Aber eine gewisse Angst bleibt...

Fußgängerampeln

Es gibt da eine Sache, die finde ich erschreckend deutsch. Auf jeden Fall bin ich ihr bisher nur in Deutschland begegnet und aus der russischen Perspektive heraus erscheint sie immens befremdlich.

Es handelt sich dabei um die Angewohnheit, einem selbst komplett unbekannte Menschen darauf anzusprechen, dass sie gerade bei Rot über die Straße gelaufen oder mit dem Fahrrad gelaufen sind. Und das mit einer wahrlich komischen Mischung aus Überraschung und Empörung.

Werte Damen (denn bisher waren es nur Frauen, die mich darauf ansprachen), ich weiß, dass die Ampel rot ist. Ich habe auch Augen im Kopf. Und wäre ich farbenblind, würde es mir auch wenig bringen, nach dem Überqueren der Straße zu erfahren, dass das Männchen rot war. Aber eben durch die bereits erwähnte Tatsache, dass ich ein über funktionierendes Paar Augen verfüge, kann ich auch sehen, dass weit und breit kein Auto da ist. Ich spreche euch ja nicht das Recht ab, auf Nummer sicher zu gehen und euere Ampelphase abzuwarten. Aber das hier ist mein Leben und ich entscheide, was für mich ein tolerierbares Risiko ist.
Und noch etwas, ich habe mir meine schwarze Kapuze ins Gesicht gezogen und habe Kopfhörer auf. Sehe ich etwas danach aus, dass ich von der Seite angeredet werden möchte?

No hard feelings...

Montag, 27. Februar 2012

Thematische Vielfalt. Oder nicht?

Es gibt eine Sache, die nervt mich schon seit... seit dem Alter, wo ich aufgehört habe, die typischen Kinder- und Jugendbücher zu lesen, und angefangen habe, mich in der großen, weiten Welt der Weltliteratur (oder, wie ich es da wohl gesagt hätte, der "Erwachsenenliteratur") umzusehen.

Ein irrsinnig großer Anteil handelt von Liebe und Beziehungskisten. In erster Linie sogar nur von Beziehungskisten. Verzeiht mir die flapsige Wotwahl, aber anders kann ich den so ausgelutschten Plot von "schlauer Professor Mitte 40 hat eine Frau (auch Mitte 40), mit der er lange verheiratet ist, und zwei Kinder, verliebt sich aber in junge Studentin/Sekretärin/Kellnerin, fäng eine Affäre an, hin- und hergerissen, wagt zum Schluss doch den Sprung in die vermeintliche/angebliche Freiheit" nicht beschreiben.

Ich will es ja nicht leugnen, der Themenkomplex  von Liebe und Partnerschaft spielt im Leben der meisten, wenn nicht sogar aller Menschen eine große Rolle. Aber einerseits, so tut das Essen, die Körperhygiene und der Schlaf. Dennoch gibt es vergleichbar wenige literarische Werke, die sich in akribischem Detail der Nahrungszubereitung und -aufnahme widmen, kaum Oden an das Duschen und unter "Bettgeschichten" versteht man auch nicht gerade die verzweifelten Versuche eines Bankangestellten einzuschlafen.

Andererseits - nur weil es eine große Rolle spielt, heißt es nicht, dass es keine weiteren Themen und Emotionen gibt, die den Menschen bewegen.
Und ja, mir ist klar, dass künstlerische Schaffenskrisen oder die Stolpersteine des Politik-Machens Fragen sind, die bei weitem nicht alle Menschen betreffen und zu denen also auch nur wenige Zugang haben. Aber wie sieht es mit so Sachen, wie dem Ablösungskonflikt von den Eltern oder der Angst vor dem Älter-Werden aus? Die ewige "wer bin ich?" Frage?

Stattdessen, wohin man schaut: Filme, Songtexte, Lyrik, Romane, die alle von unerwiderter Liebe oder Treueschwüren oder Beziehungsporträts handeln.
Es nervt.

Höfliche Absagen

Gerade habe ich (mal wieder) eine Email von einer Literaturzeitschrift bekommen, der ich bei ihrer letzten Ausschreibung einige Texte von mir zugeschickt habe. Es war eine Absage (mal wieder).

Das heißt, eigentlich war es ein großes Danke schön dafür, dass ich ihnen Texte zugeschickt habe, und die Benachrichtigung, dass sie nach ausführlicher Besprechung beschlossen haben, meine Texte nicht in der nächsten Ausgabe zu drucken.

Klingt ja eigentlich auch ganz nett. Wäre es nicht der selbe Standard-Text, den ich schon zweimal in meinem Postfach herumfliegen habe.

Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie wäre mir eine Nachricht im Stil von
"Tut uns leid, aber deine Texte sind scheiße. Deswegen drucken wir sie nicht. Bitte hör auf dein Gekritzel an uns zu schicken"
lieber, als diese höflich formulierte, weichgespülte Version. Denn ich finde, dass Höflichkeit einer Absage eine viel schärfere Kante verleiht. Sie hat dann so etwas verlogenes, etwas bemitleidendes, etwas spöttisches. Und man weiß auch gar nicht, woran man nun wirklich ist. Waren die anderen Bewerber auf den Job, die anderen Text-Einsendungen wirklich nur so viel besser, auch wenn man selbst auch gute Chancen gehabt hätte - oder fiel man eigentlich schon gleich aus dem Rennen?

Sonntag, 26. Februar 2012

Tanzveranstaltungen der dunklen Art

Gestern war ich seit langer Zeit mal wieder tanzen. Im "Schwarzen Schwimmbad", der Heidelberger einmal monatlich stattfindenden Grufti-Disko.
Ich war den ganzen Tag über schon neben der Spur und affektiv nicht auf der Höhe, habe mich aber trotzdem brav auf die StopACTA-Demo geschleppt (für alle, die sich ob meines Gesichtsausdrucks gewundert haben, jetzt kennt ihr den Grund). Und war danach noch weniger in Party-Laune.

Da ich aber die anderen nicht hängen lassen konnte, bin ich trotzdem mit. Und dann geschah der eigentliche Punkt, der mich dazu bewegt hat diesen Post zu schreiben.

Freitag, 24. Februar 2012

Comedy

Mein Verhältnis zum Genre Comedy und zu Comedy-Texten ist ambivalent. Und das ist sehr anstrengend und verwirrend (wie vermutlich alles, was ambivalent ist).

Einerseits habe ich großen Spaß daran, gute (und das ist wichtig) Comedy-Texte zu lesen oder aber ihrem Vortrag zu lauschen. Das merke ich oft genug bei Poetry Slams, das konnte ich gestern Abend bei dem Marc-Uwe Kling Auftritt feststellen. Deshalb bewundere ich auch Menschen in meinem Freundes- und Bekanntenkreis, die besonders gut darin sind, Wortspiele zu entdecken und Kalauer zu basteln, neue Texte zu Melodien zu dichten und Ähnliches (und solcherlei Leute gibt es nicht wenige).

Andererseits tat ich mich bisher sehr schwer damit, Comedy-Texte zu schreiben. Nicht dass mir die Ideen fehlten, aber ich fand es bisher einfach nicht erfüllend. Es fehlte komplett die kreative Katharsis, dieses Gefühl von "ich habe einen flüchtigen Gedanken oder ein Gefühl in Worte eingefangen, ohne dass er Schaden genommen hätte" oder von "ich nutze bekannte Sprachkonstrukte auf ungewöhnliche Art und Weise".

Jetzt aber schreibe ich an einem Comedy-Text, der mir sogar Spaß bereitet, an ihm zu arbeiten. Und das fühlt sich irgendwie falsch an.
Noch mehr Ambivalenz.

Mittwoch, 22. Februar 2012

Ferien

Welcher Teufel hat mich geritten, mir für meine freie (also von Nachtdiensten und Doktorarbeitstätigkeiten komplett freie) Woche so vieles vorzunehmen?

Soziale Verpflichtungen noch und nöcher - und dann noch rumjammern, dass ich bisher kaum zum Schreiben komme. Manchmal schaue ich mich selbst an und denke: "Typisch..."

Montag, 20. Februar 2012

Liebe Generation

Etwas, was mir schon eine Weile auf der Seele liegt:

Ich habe Freunde. Und Bekannte. Und die meisten von ihnen bewegen sich alterstechnisch zwischen 20 und 32. Und mit ihnen rede ich, gerne auch lange und ausführlich, über alles Mögliche, denn dafür sind Freunde (und Bekannte) da.

Und dabei kommen zwei Sachen oft zur Sprache.
Einerseits, eine starke Nostalgie in Bezug auf die Zeit als Jugendlicher. Remineszenzen der eigenen "wilden Party-Zeit", Erinnern an Video- und Computelspiele und Festivals und Musik und Filme, die man lieb gewonnen hatte. Das allgemeine "Ach, damals...".

Andererseits (meistens wenn das Gespräch länger und dadurch auch tiefer geht), eine Mischung aus Angst und Enttäuschung über sich selbst, da man es bisher im Leben (hier könnte auch Kunst, Literatur, Musik, Wissenschaft, Politik, Beruf stehen) nicht so weit gebracht hat. Nicht so weit? - wie man es sich erhofft hat, wie man es sich ausgemalt hat, wie man es eigentlich haben sollte, wie es in dem Alter bereits getan hat.

Dabei möchte ich mich da keineswegs ausschließen. Diese beiden Themen beschäftigen mich auch oft und ausgiebig und ich bringe das auch gerne mal in Gesprächen an. Deswegen spreche ich auch von "wir".

Aber mal im Ernst: was zum Teufel ist mit uns los!
Wir sind Anfang-/Mitt-/End-Zwanziger (die Anfang-Dreißiger zähle ich ob ihrer jugendlichen Ausstrahlung auch einfach mal zu den End-Zwanzigern). Wir haben noch gute 50 Jahre Lebenszeit vor uns. Wieso scheint uns alle das Gefühl zu belagern, dass unser Leben schon so gut wie beendet ist?

Du vermisst die Saufgelage deiner Jugendzeit mit Gesprächen über Gott und die Welt? Kauf ein paar Flaschen Wein und ab zur Neckarwiese mit ein paar Leuten! Wer hindert dich daran?
Du schwärmst von den Festivals, wo du vor 5 Jahren tolle Momente erlebt hast? Das Geld für die Karte für den kommenden Sommer wirst du doch wohl zusammenkratzen können (und ein Zelt kann ich notfalls leihen)!
Du sagst, dass $berühmterMusiker in deinem Alter schon zwei Alben veröffentlicht hatte? Da steht die Gitarre, da liegt der Schreibblock.

Klar, Kreativitätskrisen kennt jeder (der ernsthaft kreativ ist) und wenn man selbstständig einen Haushalt schmeißt und sich sein Geld verdienen muss, bleibt auch weniger Freizeit. Aber so zu tun, als würde das eigentliche Leben nur zwischen 14 (alt genug zum Vögeln) und 21 (da greift schon das Erwachsenenstrafrecht und man gilt nicht mehr als Heranwachsender) stattfinden und dann 50-60 Jahre in einem nicht enden wollenden Abspann verleben, sich freiwillig auf das Abstellgleis zu begeben...

Is this the best we can do?

Allein unter Menschen

Gerade "Last Days" von Gus van Sant gesehen.
Wäre es ein Buch , könnte man von einem Schlüsselroman sprechen, d.h. die Figuren basieren auf real existiert habenden Personen, tragen aber andere Namen und auch die Handlung ist keine Dokumentation, sondern eine freie Interpretation.

Es geht um die letzten Tage von Kurt Cobain und endet mit seinem Selbstmord.

Sonntag, 19. Februar 2012

Methadon

Es ist erstaunlich, wie sehr Patienten unter Methadon an Gewicht zunehmen. Manche, die aktuell in Mannheim substituiert werden, haben im August, als ich dort Praktikum gemacht habe, dort mit der Substitution angefangen. Und es ist schon erstaunlich zu sehen, wie viele mit jedem Monat runder wurden.

Aber Methadon macht nicht nur Nebenwirkungen. Was mir persönlich immer wahnsinnig viel Mut macht, ist dann Patienten zu sehen, die noch total hoffnungslos und tief im Drogenmilieu waren. als sie im Methadonprogramm angefangen haben, und jetzt Arbeit, eine stabile Beziehung oder auch nur allgemein so etwas wie Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und ein Sinn für ein eigenes Ziel haben.

Das gibt einem dann doch das Gefühl von "und deshalb mach ich den Kram hier".

So morgen wieder früh aufstehen. Und ehrlich gesagt - ich freu mich auf unsere Patienten.

Samstag, 18. Februar 2012

Pseudoaphorismus

Das Bild des Phönix, der aus der eigenen Asche neu aufsteigt, ist ein sehr schönes. Leider wäre es realistischer, in den meisten Zusammenhängen vom Gartenabfall, der nach langem Gammeln und Modern mal wertvoller Dünger für neue Pflanzen wird, zu sprechen.

Donnerstag, 16. Februar 2012

Nichts für Menschen mit schwachen Nerven und viel Empathie

Mein nächster Filmtipp: "Allein" von Thomas Durchschlag.

Es geht (mal wieder) um psychische Krankheit und ihre Auswirkungen auf das menschliche Miteinander.
Mehr will ich nicht erzählen, um nicht zu spoilern.

Was sehr toll ist, ist die kühle, nüchterne Art des Films, der eben nicht vor Mitleid und Schuldzuweisungen trieft, sondern eben eine Geschichte detailliert und facettenreich erzählt und einem selbst die Entscheidung überlässt, wie man anlässlich des Gesehenen empfinden möchte.

Verunsicherung

Irgendetwas habe ich wohl an meiner Ausdrucksweise oder an meinen Meinungen, das Menschen im Internet nur oft genug dazu bewegt, meine Aussagen anzugreifen oder aber als Angriff aufzufassen.

Mir wäre nicht bewusst, dass ich ein übersteigertes Harmoniebedürfnis habe, aber den Umgang in Foren, Blogs und co. finde ich oft genug eindeutig zu aggressiv.
Das Leben ist (meiner bescheidenen Meinung nach) kein Recht-hab-Wettbewerb. Und ich stelle auch keine Ansprüche darauf, euch den Alpha-Männchen/-Weibchen Platz wegzunehmen oder euch das Recht auf eure Meinung abzusprechen.

Ich will doch nur spielen!

Also, liebes Internet, probieren wir es nochmal: hallo, ich bin Xenija. Ich mag keine Shitstorms, finde zwanghafte Harmonie um jeden Preis aber genau so schädlich. Wie wäre es mit einem gepflegten Gedankenaustausch und anschließend etwas #Flausch?

Mittwoch, 15. Februar 2012

Patienten und Ausdrucksweise

Süße alte Oma. Klingelt.
"Schwester, könnten Sie mich bitte von den ganzen Kabeln kurz mal losmachen, dass ich auf Toilette kann. Ich muss pissen."
O-Ton.

Ein paar Worte zur Fixierung

Immer wieder erscheint ein neuer Bericht mit erschreckenden Zahlen darüber, wie viele Patienten fixiert werden. Und eine Welle aus Empörung geht durch die Gesellschaft (oder auf jeden Fall durch die Kommentare des Artikels): "Wie kann man bloß?", "Unmenschlich", "Sadistische, faule Pfleger", "Zwangspsychiatrie".

Da ich gewissermaßen vom Fach bin, wollte ich mal meine Sicht der Dinge darlegen. Dabei möchte ich betonen, dass diesen Ausführungen keine Recherche der Fachliteratur zugrunde liegt, sondern lediglich meine Beobachtungen, sowie das, was ich von Kollegen und Kolleginnen aus der Pflege aufgeschnappt habe.

Dienstag, 14. Februar 2012

Hassliebestirade

Schattensamtige weiße Haut
Auf hohen Wangenknochen
Lockt näher und lädt ein,
Sie zu berühren, zu verätzen,
Mit Fingerkuppen zu verbrennen,
Um selbst nicht an den Händen
Brandblasen zu ertragen.

Und totschwarz glänzende Pupillen,
Umrahmt von strahlend kühlem Blau,
Packen mich fest an meinen Schultern
Und drücken meine Seele
Von innen an den Rücken.
Erstickend kann ich nur noch zitternd
Und liebend in die Augen sehen.

Und Worte fallen in die Leere,
Die Schlucht, die das Gefühl erschuf.
So süß und schwer wie Opiumdunst
Trägst du die Wolke eines Mantels
Aus Wärme mit dir umher,
Deren mich speisenden Saum
Ich gerne reißen und zerfleischen könnte.

Winter

Der Himmel über der Heidelberger Weststadt ist glatt und weiß.

Vor diesem Hintergrund zeichnen sich kahle Bäume wie unnötig aufwendige und dadurch schöne Scherenschnitte ab. Die Spitze der Christuskirche ist auch schwarz und filigran. Dazu gelb leuchtende Dachfenster und einheitliche Reihen von Schornsteinen.

Und Stille.

Musikempfinden

Wenn einen Musik, die man schon vor 3,5 Jahren ergreifend fand, immer noch zu bewegen vermag, macht man dann eine Regression durch? Oder ist das Lied einfach nur toll?

Fluchtversuch

Nachts um 3:20.

Patient (liegt mit instabiler Halswirbelfraktur bei uns) hat sich das EKG abgebaut. Das sehe ich am Monitor.
Gehe in das Zimmer.

Patient hat sich den Stiff-Neck abgebaut und liegt auf dem Bauch auf dem Bett, ein Bein hängt schon draußen, mit dem anderen hat er sich im Bettgitter verfangen.

Ich: "Herr Xyz (Datenschutz und so...), wo wollen sie denn hin?"

Er (in das Kissen nuschelnd): "Nach Amerika."

Faulheit

Mein Tag gestern:
Aufwachen
Laufen (15-16 km, die Fahrrad-Wegweiser haben sich gegenseitig widersprochen)
Duschen
Essen
Schlafen
Arbeiten

Mein Tag heute:
Aufwachen
Essen
am PC sitzen (you are here)
zur Pflegedienstleitung fahren und einen Zettel unterschreiben lassen
am PC sitzen/schlafen
Arbeiten

Ich komme mir sehr vegetierend vor. Und habe die leise Befürchtung meine gesamten Semesterferien und mein Freisemester könnten auf diese Art und Weise versumpfen. Noch nichts geschrieben, noch nichts Aufregendes unternommen. Man könnte meinen, ich werde zu der Art Mensch, die ich, nein, "verachte" wäre zu stark, nicht besonders leiden kann.

Aber ich probiere es mal mit der Optimismus-Schiene. Es ist sicher nur das Nachholen der notwendigen Faulheit, die mir in der Klausurphase gefehlt hat. Quasi ein Auslaufen des Schwungs vom Semester, bevor man wieder Anlauf nimmt.

Mal sehen...

Sonntag, 12. Februar 2012

Just sayin'

"Die Summe meiner einzelnen Teile" ist ein toller Film. Wenn man sich durch Empathie in den Bann eines Kunstwerks ziehen lassen kann - dann sollte man diese Möglichkeit dazu nicht verpassen.

StopACTA Demos

Gestern war ich nach langer Pause endlich mal wieder Demoluft schnuppern. Und nicht nur einmal, sondern gleich in zwei Städten an einem Tag.

Samstag, 11. Februar 2012

Delyrikum

Wenn ich am helllichten Tag aus dem Traum eines mir vertrauten Unbekannten erwache, wenn ich mir die Regentropfen seines Angstschweißes mit Gewohnheit aus dem Gesicht wische, wenn ich mir im schwülen Sommer mit kälteklammen Händen durch meine wirren Gedanken fahre, im kläglichen Versuch, Knoten und Knäuel zu lösen, was sehe ich dann überhaupt? Vor meinen Augen, vor denen stets der Schleier der Schlaftrunkenheit und Übernächtigung schwebt, tanzt dasselbe Panorama wie sonst auch. Und in meinem üblichen Hybrid aus Hybris Verzweiflung meine ich, dass es nur deshalb so schnell an mir vorbeirast, weil ich renne, meine Beine und Arme wie gut geölte Maschinenkolben nach vorne werfe, um dann mit federnden Füßen auch den Rest von mir vorwärts zu katapultieren.

Aber jetzt, wenn ich die Augen zukneife, als würden Schneesturmnadeln mein Gesicht malträtieren, erkenne ich, dass auch dies Illusion ist. Mein Laufen, meine Schritte sind nichts als zwecklose Zuckungen, während ich horizontal falle. Ich höre die Schwerkraft kichern und blicke in ihre höhnische Fratze, als sie sagt: “Tja, hättest du nicht gedacht, oder?” Ja, das hätte ich nicht gedacht. Hätte ich bloß gar nicht gedacht. Denn aus dem “gedacht” erwachsen nur Gedanken, aber noch lange kein Dach über dem schmerzenden Kopf.

Und meine Kopfgeburten liegen zur Zeit mir zum Trotz alle in Steißlage, setzen sich den Wehen zur Wehr, bis ich vor Erschöpfung schweißgebadet aufgebe und sie in mir absterben und verrotten lasse, bis nur noch die Säfte der Zersetzung übrig bleiben. Was schadet mir ein Gift mehr in meinem Blutstrom? Das Menschenlebensglück, süß, warm, nahrhaft, wie Kakao, erzeugt nicht mehr genug Spannung, um mir als Herzschrittmacher dienen zu können. Immer häufiger setzt es aus, dieses Organ, das mir die Sehnsucht durch den Körper pumpen soll. Und auch wenn es dann wieder einsetzt und weiterschlägt und mir Drängen und Verlangen durch alle Adern strömen, so reicht die Dosis für einen Rausch nicht aus. Am Leben zu sein lindert nur die Entzugssymptome. Auf einen Kick warte ich schon lange.

Dabei zerrt meine Sehnsucht wie ein hungriger Jagdhund an der Leine, wittert in der vom Nebel versteckten Ferne auch Beute, findet aber keine Fährte, so viel sie sich auch im Kreis dreht. Beute, Beute, was könnte mein Sehnen dieses Mal bloß erjagen? Welches ehemals schöne, edle Tier wird sie mir als nächstes blutverschmiert und schlaff vor die Füße legen? Oder lasse ich sie bald auf einen Gegner los, dem sie nicht gewachsen ist, der sie zerbeißt und zu Boden drückt, statt andersrum. Ach Sehnsucht, treudoofe alte Hündin, roll dich doch in der warmen Ecke zusammen, leg die ergraute Schnauze auf die Vorderpfoten und ruh dich doch endlich mal von der ewigen Hetzjagd, vom ganzen Töten aus, du Mistvieh! Aber ich tue dir ja unrecht. Das Täterlamm bleibt unschuldig, auch wenn selbst die Handschellen, in denen es abgeführt wird, an seinen Hufen zu tödlichen Waffen werden. Und dennoch hast du für heute genug gejagt.

Ich werde alleine spazieren gehen. Ich lasse meinen Ausweis, auf dem zwar mein Bild zu sehen ist, der aber von der Frage, wer ich bin, genauso wenig zu erzählen weiß, wie jeder zufällige Passant, meinen Lebenslauf, meine Freundschaften, meine Vernunft, meinen Hausschlüssel, ja, alles lasse ich daheim. Ich werde an den Fluss gehen, um dort im Wasser das Zerrbild meiner selbst zu sehen. Fließen eigentlich alle Flüsse ins Meer? Und wenn ja, erzählen sie sich dann, im großen Mischbecken der Ewigkeit angekommen, von allen Bildern, die sie gesehen haben, vermischen ihre Erinnerungen?

Der Fluss ist groß und ruhig, ausgewogen. Das Plätschern, das ich höre, ist das der Zeit. Das Rauschen sind nicht die mir zuwinkenden Blätter, es ist immer noch der Fahrtwind meines Fallens. Durch alle Netze der Besonnenheit stürze ich hindurch. Es gibt hier keinen Halt. Und die Bilder vor meinen Augen wechseln sich immer schneller ab. Müssen Köpfe rollen, damit meiner aufhört, sich zu drehen?

Selbstzensur

Nein, dies soll kein Post politisch-gesellschaftlichen Inhaltes werden. Sondern vielmehr ein sehr persönlicher.

Laufgruppen

Die Spezies Mensch hat sich schon ein paar zwar harmlose, aber abscheuliche Sachen einfallen lassen. Dazu gehören braune Riesensonnenbrillen, McDonalds (da kann man sich über die Harmlosigkeit streiten), das iPad, Plastikpflanzen, Hummel-Figuren.
Und eben Laufgruppen.

Donnerstag, 9. Februar 2012

Zwischen zwei Nachtdiensten

Zwischen zwei Nachtdiensten ist man sehr eingeschränkt. Man hat einen unglaublichen Schöafmangel und muss auch noch für den kommenden Dienst "vorschlafen". Man hat eine Umwelt, deren Schlaf-Wach-Rhythmus dem eigenen diametral entgegen steht.

Und doch fühlt man sich so wahnsinnig frei. Diese Erfahrung, um zwei Uhr Nachmittags aufzuwachen und die fast leeren Straßen draußen zu betreten, durch den möchtegern Schneesturm spazieren zu gehen, während alle anderen arbeiten oder sonst wie beschäftigt sind.

Immerhin war gestern ruhig. Außer dem einen Patienten, bei dem wir nur noch abwarteten, bis sich sein Zustand soweit verschlechtert, dass er auf die Intensiv muss. Ich fand es nicht gerade entspannt, einen Patienten zu versorgen, während der Notfallwagen, das Intubations-Tubehör und der Defibrillator schon direkt neben dem Bett standen. Just in case.

Mittwoch, 8. Februar 2012

BILD

Das Doofe daran, mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs zu sein, ist dass man viel zu häufig Menschen gegenübersitzen muss, die eine BILD-Zeitung lesen. Und bei mit springt dann der unangenehme Reflex an, dass sobald ich etwas Gedrucktes sehe, ich es automatisch anfange zu lesen.

Heute aus dem Augenwinkel in der S-Bahn gelesen:"Jetzt neu abnehmen mit der BILD-Diät!"

Das kann ich mir echt gut vorstellen. Einfach nach jeder Mahlzeit 10 Minuten lang die BILD lesen - und alles Essen kommt freiwillig wieder hoch...

Dienstag, 7. Februar 2012

Neues aus der Anstalt... ähm, Methadonambulanz

Ich war heute mal wieder in der Suchtklinik in Mannheim. Diesmal aber nicht, um Methadon zu verteilen, sondern um Patientendaten anonymisiert für eine Publikation aufzubereiten. Langweilige, zähe, zeitaufwendige und anspruchslose Tätigkeit: mit anderen Worten HiWi-/Doktoranden-Arbeit.

Wobei ich meine gesamte Tagesportion Optimismus dafür genutzt habe, auch diesen Tag nicht als vergeudete Lebenszeit zu betrachten.

Einerseits habe ich mir eben die Lebensläufe unserer Patienten (und es sind mehr als Hundert) mal genauer angeschaut, im Ambulanzalltag bleibt einem selten Zeit für sowas. Und konnte feststellen, dass es wirklich stets die Schwächsten sind, die Heroin-abhängig werden. Entweder die sozial Schwächsten - also Menschen, die ihre Kindheit damit verbracht haben, zwischen dem von Armut und Alkohol (und oft genug auch Gewalt) geprägten Elternhaus und Heimen, wo sie dann auch mit 13 oder 14 das erste Mal Heroin konsumierten, hin- und herzupendeln - oder die psychisch Schwächsten - Menschen, deren Leben (das davor oft genug "normal" verlief, also mit Freunden und guten Noten und Ausbildung/Studium/Beruf) durch das Einsetzen einer psychischen Krankheit komplett aus der Bahn geworfen wurde und die dann Heroin nahmen, um vor ihren Wahnvorstellungen oder Ängsten zu flüchten.
Irgendwie schon ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft, wenn man sich überlegt wie viele derart gescheiterte Existenzen es allein in Mannheim gibt. Und die Leute machen es sich selbst natürlich nicht leicht, sind oft im Umgang schroff, egoistisch, unhöflich, es wird ihnen aber auch alles andere als leicht gemacht - habe auch schon so viele Erfahrungsberichte von Kündigungen und beendeten Freundschaften und Beziehungen gehört, nachdem sie dich als Patienten eines Methadonprogramms geoutet hatten.

Und das bringt mich auch zu meinem "andererseits": wenn man dann so dasitzt und sich seinen Weg durch diese Akten, durch diese Zahlen und Fachbegriffe gewordenen Schicksale liest (ich persönlich finde ja den Begriff "Anpassungsstörung" für "Trauerreaktion" ja schon sehr toll) und dann einem Henke mit Goethes Erben "Es gibt keine Lösung, keinen Ausweg, keinen Sinn" ins Ohr flüstert... Ich fasse die Essenz der Erfahrung mal großzüging mit "Gänsehaut" zusammen. Und nicht "ach so schön"-Gänsehaut. Eher "wer hat mir den Coolpack ums Herz gelegt?"-Gänsehaut.

Montag, 6. Februar 2012

Der müde Puppenspieler

Meine Hände sind inzwischen wund, rohes Fleisch schreit sich den Weg durch die Risse in meiner Haut. Ich war früher stolz auf meine weiße, weiche Haut, doch jetzt verfluche ich meine zarten Hände. Alles, was zart ist, steht irgendwann vor dem Ungeheuer der eigenen Schwäche und alles, was schwach ist, muss irgendwann sterben. Aber meine Hände dürfen noch nicht sterben, so sehr sie sich nach der säuerlich-kühlen Erlösung des Todes sehnen.

Ich bin Puppenspieler.

Die eine Hand hält ein krudes Holzkreuz, an dem fünf Marionettenfäden gespannt sind. In der anderen sind weitere Fäden, sodass meine Puppe nicht nur ihre Arme und Beine, sondern auch ihre Hüften und Schultern und ihren Mund und sogar ihre Finger bewegen kann. Nicht, dass es zu viele Fäden wären, um mit ihnen zurechtzukommen, sie waren schon immer da, um meine Fingerglieder und Handfläche geschlungen. Ich kenne sie und das, was sie mit dem schlacksigen Leib der Marionette anstellen, besser als meinen eigenen Körper. Aber das Gewicht der Puppe und das ständige Hin- und Herbewegen lassen sie sich immer tiefer in mein Fleisch hineinschneiden. Schon sind die losen Fäden mit meinem warmen Blut braun getränkt, schon ist das Holzkreuz glatt poliert, da alle Splitter bereits längst in meiner Haut stecken. Meine Arme sind müde und bleiern, doch ich darf sie nicht herabsinken lassen.

Die Puppe muss weitertanzen, weiterhin gehen, rennen, knicksen und sich verbeugen, einem unsichtbaren Feind mit der Faust drohen oder eine lange Nase machen. Auch mein Geist ist erschöpft, mir fallen keine neuen Kunststücke ein, die meine Marionette noch vorführen könnte. Doch das Publikum steht vor mir, alles leere Gesichter, bei denen nur der Hunger aus den Augen spricht. Sie werden nicht satt und sie gehen nicht weg, ich bin umzingelt von einer Wand aus ihrer Aufmerksamkeit. Ihr Schweigen verschließt mir jeden Fluchtweg. So stehe ich nackt und hilflos vor ihnen mit meiner zarten, weichen Haut und meiner dumpfen, zahmen Schwäche. Mein einziger Schutz ist diese hampelnde Holzfigur.

Wie ich sie hasse!

Ich hasse sie, weil ich sie beneide. Weil ich alles dafür geben würde, auch nur einen Moment an ihrer Stelle mit losen Gelenken und hölzernem Inneren an diesen Fäden zu hängen. Schwerelos von fremder Hand in immer neue Verrenkungen gezwungen werden, ist das Nächstbeste zum Körperlos-Sein. Gehalten von fremder Kraft, gelenkt vom Verstand eines Anderen, man könnte selbst nichts tun und dürfte doch alles, was man tut. Man könnte fallen und wissen, dass es den ersehnten Aufprall geben wird. Ich könnte den schweren Holzkopf heben und das Publikum ansehen.

Und ich dürfte stehen bleiben.

Anleitung zum Ich-Sein

Und wieder pirscht sich ein Tag an. Und auch er wird bald damit anfangen, die klägliche Weide des Zu-Erkennenden, des Noch-Nicht-Gedachten abzugrasen. Nach der langen, mühevollen Jagd werden die erbeuteten Gedanken, Einfälle, Erkenntnisse auf einmal so lästig-wertlos, ekeln einen mit der Frage danach, was man mit ihnen eigentlich anfangen sollte, förmlich an. Doch dann sind sie schon längst aus der Lösung der ungestellten oder ungeklärten Fragen ausgefallen, ausgeflockt und weigern sich, sich als Ion wieder im Lösungsmittel des Geistes zu tummeln. Als Ion hatten sie noch eine Ladung, konnten polarisieren, in Strömen durch die Köpfe fließen. Nun, als dumpfes Sediment im Reagenzglas des Bewusstseins, liegen sie da – kristallin und ladungslos. Völlig wert-neutral. Und die Brühe, die in unseren Köpfen schwappt, ist längst keine Elektrolyt-Lösung mehr, nährt nicht mehr, sondern nähert sich in ihrem faden Geschmack immer mehr dem des destillierten Wassers an.

Aber was soll's?

Wir leben immer bunter, immer fröhlicher, immer bequemer. Was früher Wunderwerk der Technik war, steht jetzt in jedem Kinderzimmer. Was heute noch ein Köngsmahl ist, gibt es morgen auch in Ihrem McDonald's um die Ecke. Darf's auch ein Menü sein? Die Elektroengineure tüfteln, die Fließbänder spucken aus, die Marketing-Abteilung macht irgendwas mit Medien – und bald hat jeder statt eines Grabsteins ein iPad mit seinem Facebook-Profil hinter dem bisschen Moder, das er mal war, stehen. Mit Solarenergie betrieben, versteht sich. Der Lebensstandard steigt, der Wirtschaftsindex hebt ab und die Bild-Zeitung holt sich dazu einen runter.

Und was bleibt uns? Ein dumpfer Phantomschmerz in dem, was man früher Seele nannte. Wir sind alle schrecklich individuell, denn dem Mainstream anzugehören ist ja sowas von out. Hast du es etwa nicht gehört: Originalität ist die neue Mode! Deswegen ziehen wir uns die Hornbrillen an, quetschen uns in schwarze Röhrenjeans und kritzeln mit Wegwerf-Kugelschreibern freche Sprüche auf unsere Mäppchen und Eastpack-Rucksäcke. Um allen zu zeigen, wie unaufhaltsam einzigartig wir doch sind.

Dabei ist doch jeder erdenkbare Modus Mensch schon längst in Büchern beschrieben, von mehr oder minder talentierten Schauspielern auf die Leinwand gezaubert oder von den sogenannten großen Persönlichkeiten in die Geschichtsbücher und Biographien-Regale gebracht worden. Egal wie man sich wehrt, man schafft es nicht, sein Leben so über die Bühne zu bringen, dass man kein Abklatsch einer Romanfigur ist. Man kann keinen Gedanken mehr fassen, geschweige denn niederschreiben, ohne damit des Plagiats schuldig zu werden. Bald wird die Frage nach dem “Wie geht es dir?” ehrlicherweise ersetzt werden.
“Bist du heute wieder einem Werk von Kafka entstiegen oder ist heute ein Coelho-Tag?” “Ach, weißt du, mir geht es in letzter Zeit sehr Dostojewski.”

Das Sehen und Begreifen, das Denken gibt es nur noch als geisttiges Wiederkäuen – denn alles wurde schon vorgemacht. Listen and repeat. Je mehr man sich auf die Suche nach intellektuellen Gipfeln macht, die man dann als stolzer Erstbesteiger erstürmen kann, umso mehr fallen einem die Trampelpfade ins Auge. Man ist in einem Labyrinth aus Trampelpfaden gefangen und sogar die als Sackgassen oder Kreisverkehre mit nur einer Abfahrt angelegten Fluchtwege sind liebevoll ausgeschildert, gut asphaltiert und mit Mülltonnen und Aschenbechern versehen.

Eine Anleitung zum Ich-Sein in zehn einfachen Schritten, von Experten erstellt, von führenden Persönlichkeiten empfohlen. 37 Benutzer haben zu diesem Artikel eine Rezension verfasst. Wir erstellen unsere Persönlichkeiten nach dem Mix-and-Match-Prinzip aus allen freiverkäuflichen Alleinstellungsmerkmalen, alles auf dem Grundgerüst aus Plastikglück.

Und immer noch zu stolz, uns unsere kreative Impotenz einzugestehen, durchkämmen wir das leergefischte Meer der Gedanken und Gefühle mit den engmaschingen Netzen unserer engstirniger Geister.
Wenn wir nichts mehr spüren, liegt es eigentlich daran, dass wir von der Flut aus Sinneseindrücken schon überreizt sind, oder daran, dass unsere Nerven vom langen Hungern nach etwas Echtem, nach etwas Wahrem schon längst verkümmert sind? Und macht es überhaupt einen Unterschied?

Die Stunde ist noch nicht zu Ende, auch wenn alle Themen des heutigen Unterrichts schon abgehandelt wurden. Die Erde dreht sich weiter, auch nachdem sie komplett erforscht wurde. Und so bleibt uns nichts übrig als wiedergekäute Wortpampe.

Wie diese hier.

fACTA

Ja, ich hoffe ihr seid euch der Auswirkungen von ACTA auf "life as we know it" bewusst. Wenn nicht:

klicken und angucken!
(die Synchro stammt übrigens vom unvergleichbaren Bruno Kramm)

Aber darum soll es nicht primär gehen.

Sondern habe ich mich dazu durchgerungen, auch mal entsprechend meinen politisch-gesellschaftlichen Idealen zu handeln. Diesmal im Bereich Urheberrecht.
Deshalb werde ich ab jetzt die eine oder andere Sache, die meinem Kugelschreiber/Fineliner entspringt, hier in meinem Blog veröffentlichen. Ich fange jetzt mal häppchenweise mit alten Sachen an.
Ich hoffe ihr habt Verständnis dafür, dass ich nicht alle meine Schreibereien hier reinpacke, schließlich habe ich den Anspruch an mich, bei Slams nur bisher unveröffentlichte Texte zu lesen und möchte manche von meinen Texten auch mal in einer Literaturzeitschrift sehen (und da ist das mit der Online-Publikation auch problematisch).

Ich vertraue mal auf das Gute im Menschen (ich werde schon schnell genug eines Besseren belehrt werden) und hoffe, dass keiner hier die Hegemann macht.

Nachtrag: Ach ja, und ganz wichtig - ich würde mich sehr über Kommentare freuen. Es sind Kommentare zu all meinen Einträgen stets erwünscht (schließlich will man ja sehen, dass man nicht sinnlos vor sich hinschreibt - ok, das tut man eigentlich immer, in dem Fall - dass der eigene Schwurbel auch gelesen wird), aber bei meinen Texten bitte ich noch eindringlicher um Feedback.

Reanimation

Hello World,

nein, in diesem Post soll es nicht um das tolle Notfallmedizin-Training gehen, an dem ich an diesem Samstag teilgenommen habe. Ja, es gibt solche Idioten, die freiwillig an einem Samstag an die Uni gehen, um sich dort blaue Flecken und Muskelkater abzuholen.

Sondern: ich habe (wie manche meiner Leser sicher wissen) ab jetzt erst einmal Semesterferien und danach noch ein Freisemester, in dem ich mich um meine Doktorarbeit kümmern werde (mit anderen Worten: dicke Menschen in ein MRT schieben und ihnen Burger-Bilder zeigen werde). Und ich merke jetzt schon, wie ich in ein Loch aus Faulheit und sinnlosem Internet-Gesurfe falle. Und das endet bei mir meistens nicht so gut.

Deswegen habe ich mir vorgenommen, ab jetzt mindestens jeden zweiten-dritten Tag etwas aus meinem Leben, dem Nachtdienst-Alltag (punintended) und der wundersamen Welt im Bermuda-Dreieck zwischen meiner Amygdala, meinem Broca-Areal und meinem frontalen Kortex zu erzählen.

Have fun!