Samstag, 16. April 2016

Vertrieben aus dem Nimmerland

Meine aktuellen Überlegungen zum Thema "erwachsen werden" und Resignation. Ein fiktiver Brief an J., der sich jedoch nicht an ihn richtet, sondern den Menschen, die mir jetzt nahe stehen, erklären soll, was in mir vorgeht.



Es war Frühling als wir uns angefreundet haben. Wir hatten unser Ritual, wir trafen uns vor der Vorlesung und tranken bitter-saueren Filterkaffee aus Thermoskannen und rauchten Kette - damals noch filterlose Selbstgedrehte. Nach der Vorlesung gingen wir raus und rauchten wieder Kette und tranken dazu billiges Dosenbier. Als wir uns das erste Mal vor einer Vorlesung derart verabredeten, lag noch nass-schwerer verspäteter Februarschnee auf den Straßen. Wir redeten über das Seminar und über Musik. Dann brach der Frühling als Welle von hellgrün und blütenweiß über die Stadt herein. Es wurde wärmer, wir trugen kurze Hosen und blieben abends länger draußen sitzen. Wir redeten über alles - Simpsons, Nazis, Stiefväter, Katerkopfschmerzen, Gewahrsamzellen, Eifersucht und Ratten. Zwei Frühlinge später waren wir außeinander gedriftet. Spätestens als du mit deiner Freundin zusammengezogen warst in eine Wohnung, die ihr auf Anraten eines  Innenarchitekten schweinchenrosa gemalt habt und weiß lackierte Hirschgeweihe (statt der zerknitterten Deutschpunk-Poster) an die Wände gehängt habt, war mir klar, dass wir uns aus den Augen verloren hatten. Wir konnten uns zwar weiter auf einen Kaffee (inzwischen auf deinen Vorschlag hin bei Starbucks gekauft und nicht aus der Thermoskanne) treffen und reden - aber im Augenkontakt war kein gegenseitiges Verständnis mehr zu finden.
Deshalb schreibe ich diesen Brief auch nicht an dich. Nur über dich. Du dienst nur als Projektions-, nein, als Reflexionsfläche für meinen narzistisch-egozentrischen Monolog. Denn ja, in diesen Zeilen geht es nicht um dich und auch nicht um uns, sondern um mich. Ich hoffe, du verzeihst mir, dass ich dich, beziehungsweise vielmehr das Bild des Vergangenheits-Dus dafür gebrauche. Wahrscheinlich schon, denn dich wird dieser Text vermutlich sowieso nie erreichen.

Wie dem auch sei.
Ich weiß noch, wie wir in der Vormittagssonne saßen und uns geschworen haben, dass sollte einer von uns mal ein versnobbter, arroganter, nur an Karriere, Geld und Gegenständen interessierter Oberarzt werden, der andere ihn doch bitte erschießen möge. Dass wir niemals das Gefühl der Freiheit und das Gefühl des am-Lebens-Seins verlieren möchten, dass wir niemals Intensität gegen Stabilität eintauschen würden, dass wir niemals erwachsen werden. Dann sah ich dich fünf Jahre später vor mir - die Lederkutte mit den Nieten gegen ein weißes Polohemd getauscht, Cocktails schlürfend statt Bier am Flussufer trinkend, über Autos statt über Demos unterhaltend. Inzwischen selber die Sorte nationalistische Witze reißend, über die wir uns früher aufgeregt haben. Trittst bald deine erste Stelle an, die du mithilfe von Connections (deiner eigenen und die deines Vaters) bekommen hast. Keine Spur von Weltschmerz, kein Hauch von Sturm und Drang. Du warst erwachsen geworden und ich konnte es nicht verstehen. Ich war noch sicher, dass mir mein Platz in Nimmerland stets sicher sein wird und konnte nicht verstehen, wieso jemand Peter Pan abtrünnig werden könnte.

Nun ist nicht einmal ein Jahr seit diesem letzten Treffen zwischen uns vergangen. Ich will und kann nicht behaupten, dass ich die Motivation deiner Veränderung oder wie sich dieser Prozess für dich angefühlt hat verstehe. Aber ich merke selbst wie sehr mich die Zeit und das Leben der Erwachsenen verändern.

Und dabei merke ich, wie falsch der Begriff "erwachsen" ist. Das klingt danach, als würde es mit einem Wachstum, mit einem Zugewinn an Raum und Dimensionen, mit Weite und Ferne zu tun haben. Der Vorgang, wie ich ihn erlebe, ist jedoch nur einer des Erhärtens, des Zusammenschrumpfens eines Menschen, einer Persönlichkeit auf alles Harte und Feste in ihm. Es ist so, als würde der Druck des Alltags aus einem Menschen oder - um mich nicht hinter Gemeinplätzen zu verstecken - aus mir alles Weiche, alles Flüssige, alles Flexible herauspressen, bis nur ein kleiner Rest übrigbleibt, komprimiert und stahlhart. Als würden Stress und Enttäuschungen und Sachzwänge sich zu einer großen Müllpresse vereinen, die Menschen fressend durchs Leben zieht und kompakte, gut stapelbare und unzerbrechliche Würfel herausspuckt. Und aus einem Abflussrohr läuft der herausgepresste Überstand ab, bestehend aus Träumen, Gefühlen, Idealismus, Wünschen, Schmerz und Hoffnung. Wird in die Kanalisation geleitet und im Klärwerk neutralisiert, dass ja niemand sich an dieser hochpotenten Mischung berauscht.

Ich merke, wie mit zunehmender Verbesserung meiner Funktionalität in der Arbeitswelt, meines Aufstehens nach dem Hinfallen, meines Abfinden mit dem, was ist (statt mit dem, was sein sollte), meine Gefühle verblassen, die Töne meiner Welt ihre Nuancen verlieren und sich auf eine 12-Farben Palette beschränken. Wie ich allen voran selbst nicht mehr an meine Träume glauben kann. Wie Resignation Wut und Zorn verdrängt, wie Zynismus als Standardreaktion den Platz einnimmt, den Fassungslosigkeit und Tatendrang einmal hatten. Wie die Welt in meinen Augen an Dimensionen verliert und ich nicht mehr in ihren Winkeln nach Körnchen des Transzendentalen suche. Wie ich intensive Emotionen nur noch in der Vergangenheitsform, im Hervorangeln von Erinnerungen erleben kann.
Wie ich aus Gewohnheit weiterlebe und nicht aus einer Hoffnung heraus. Jegliche Hoffnung (auf Glück, auf eine erbesserung der Gesellschaft, darauf so etwas wie einen Sinn zu finden) wird so lange brutal von einem verbitterten Realitätscheck wegzensiert, bis ich nicht einmal mehr weiß, worauf ich hoffen könnte. Nicht einmal mehr weiß, was ich will. Wie sich das anfühlt, glücklich zu sein. Und auch nicht mehr weiß, wie sich Weltschmerz oder Liebeskummer oder intensie Enttäuschung anfühlen. Was aktuell an Gefühlen da ist, ist das Heimweh nach dem Nimmerland, der Verlustschmerz von allem Weichen und Verträumten und Irrationalem, das aus mir herausgepresst wurde. Und dieser Phantomschmerz nach der seelischen Amputation ist höllisch. Un dennoch ist meine größte Angst gerade, auch noch den zu verlieren. Denn dann ist auch mein Verhärtungsprozess abgeschlossen.

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