Sonntag, 9. Februar 2014

Eine Karte des Permafrost-Gebiets

Ein Mann sitzt zitternd auf dem Boden, sortiert gefrorene ganze Heringe. Formt aus den Eisstückchen, die an den Fischen kleben, einen Schneeball, den er weinend sich fest an die Brust presst. Er sieht mich an und fragt dann mit einer Traumwandlerstimme, ob ich ihm helfen würde. Ob ich mit ihm die Fische sortieren würde. Wir sortieren die Fische. Alle mit dem Kopf in eine Richtung, die mit einer geraden Schwanzflosse auf eine, die mit einer gebogenen auf die andere Seite.
Und auf eine seltsame Art und Weise habe ich aber das größere Gefühl der Surrealität, als die Performance vorbei ist und ich mich durch die normalen Mannheimer Abendstraßen bewege.

"ich habe auf diesen berg da gewollt, warum weiß ich auch nicht so genau, und jetzt sind meine zehen schwarz und ich werde jetzt gleich hier sterben in diesem eisgebirge"


Es fängt recht harmlos an. Man muss am Eingang sich mit Namen und Alter anmelden, die Schuhe ausziehen und durch einheitliche Pantoffeln ersetzen. Man kommt in einen großen Raum, leer - bis auf Matratzen entlang der Wände (und einigen Tische mit Computern für Technik und Regie). Man nimmt auf den Matratzen Platz, Zuschauer_innen und das Ensemble sitzen durchmischt nebeneinander. Es wird die Hausordnung verlesen und ausgeteilt. Die nächsten 12 Stunden soll nach ihr gelebt werden - mit vorgeschriebenen Essenszeiten, Regeln über das Verlassen des Geländes. Danach wird sich umgezogen. Nicht nur die Performer_innen, alle Anwesenden sollen sich etwas aus dem Fundus der Kleiderkammer anziehen. Altmodische, rustikale, auf Winter ausgelegte Kleidung. Es werden Passagen aus Kafkas "Schloss" verlesen.

Es fühlt sich alles befremdlich-bedrückend an. Dem Alltag entrückt, der Performance ausgeliefert. Unsicher, was man tun soll, tun darf. Tun wird.

Und dann beginnt die "eigentliche Performance".

Zuschauer_innen werden regelmäßig in Gruppen aufgerufen und kriegen den Befehl, mit in Gruppen bereitstehenden Möbeln das Setting den Tatort einer der Performance-Szenen aufzubauen. Die Performer_innen helfen beim Aufbau zwar mit, übernehmen jedoch nicht die Leitung, sondern lassen die Zuschauer_innen gleichberechtige Mittäterschaft übernehmen.
Eine Szene nach der anderen wird aufgebaut, der Raum, der am Anfang leer und kalt wirkte, füllt sich, wird dadurch kurzzeitig wohnlicher, dann aber auch sehr schnell schon chaotisch, überladen, unübersichtlich, erdrückend.
Kalt bleibt es dennoch.

Kalt ist es vor allem wegen dem, was in dem Saal passiert. In den Performances werden unterschiedliche Situationen gezeigt - manche alltäglich, manche gänzlich surreal. Oft sehr animalisch, sehr körperlich. Nicht "essen" und "Sex" werden dargestellt, sondern "fressen" und "ficken". Extreme, intensive Sachen passieren, extreme, intensive Gefühle (von Trauer, Verzweiflung, Wut) gezeigt. Und sind dann wieder weg, hinterlassen wieder eine große Leere.

Und nicht nur die Szenerien befinden sich nebeneinander - die gesamte Performance ist ein großes Nebeneinader von vielen Einzelperformances. Und die Parallelität des Geschehens wirkt unheimlich anstrengend (egal, wie sehr man sich bemüht, irgendwann muss man sich eingestehen, dass man den Überblick verloren hat) und vertörend. Ein Mann hackt Holz, eine Frau zerschneidet Fische. Sie reden und beschreiben dabei eine toxisch-maligne Liebesbeziehung. Der Mann packt die Frau und fängt an sie zu würgen, hält ihr den Mund zu, um sie vom Schreien abzuhalten. Daneben steht ein großer Tisch, an dem eine andere Frau unbekümmert mit einem Handrührgerät Teig zubereitet.

So langsam verdichtet sich die Welt, bis sie nur noch aus dieser Hall zu bestehen scheint. Denn als Gast der Inszenierung sitzt man hier eben nicht nur da und betrachtet. Man lebt in diesem Stückt. Hier isst und trinkt man (nach einem gemeinsamen Speiseplan), hier rollt man sich mal auf einer Matratze zusammen und ruht sich aus, wenn man bei der 12stündigen Performance mal eine Auszeit braucht (Getreu der Textzeile "versande im Treiben, schlaf auf dem boden wenn du im urwald bist" aus dem Stück). Hier ist es nicht unhöflich während der Inszenierung mal mit anderen Menschen zu sprechen. Man selbst wird von Performer_innen zum Teil auf einmal angesprochen. Manchmal ist man "nur" Adressat eines Monologs. Manchmal wird man gefragt, ob man mitkommt, um gewaschen zu werden. Was dann auch im Bad in einem Zinn-Waschzuber geschieht.

Und selbst wenn man dann doch die Aufforderung bekommt, mit einem der Performer_innen mitzukommen und somit laut Hausordnung vom Gelände gehen darf, so fühlt es sich nicht danach an, dass man die Permafrost-Halle verlässt. Viel mehr scheint sich die Welt der Performance dann wuchernd auszubreiten. So wird man von einer Performerin angesprochen, ob man nicht mitkommen und was trinken möge. Sie führt dann einige Zuschauer_innen durch die Straßen Mannheims, man kommt an einem Wohnhaus an, wird auf der Kellertreppe allein gelassen, bis dann ein kleines Mächen in einem weißen Kleid erscheint und eine Innenperspektive des Scheiterns vorträgt und einen dann in den Keller hineinführt. Dieser ähnelt einer heruntergekommenen Dorfdisko. Es läuft in Endlosschleife laut "Felicità". Und eine betrunken wirkende junge Frau in einem kurzen Kleid torkelt einsam über die Tanzfläche. Man trinkt dort einen Wodka und geht wieder hinaus. Und die Straßen Mannheims wirken auf einmal eine Mischung aus trist, bedrohlich und unecht.

Nach dem perfomativen Teil kam zum Schluss noch ein dokumentarischer. Es wurden Videos von den Performances des "Winterquartiers" - der Inszenierung auf der Permafrost aufgebaut hat - gezeigt und die am Projekt Beteiligten sprachen von ihren Eindrücken, von ihrer Sicht auf die Entstehung des Stücks.

Den Ausklang bildet dann laute Musik und noch die Gelegenheit - zu tanzen. Wirkt auf den ersten Blick paradox, ist es vielleicht auch, passt aber dennoch. Denn nachdem man mit dem Ensemble Abgründe durchwandert durchlebt hat, in so vielen Spiegeln so viele verschiedene Fratzen des Scheiterns gesehen hat, kommt irgendwann der Punkt, wo einen die Beklemmung nicht mehr lähmt. Die Angst und die Leere gehen zwar nicht weg oder werden schwächer, aber sie entlassen einen in einen Zustand von großer Freiheit.

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