Montag, 24. Februar 2014

Pauschalpazifismus

"Wir lehnen jede Form der Gewalt kategorisch ab."
Diesen Satz hört und liest eins oft - bei der Auftaktansprache von Demos, im Selbstbild von Gruppierungen und Bewegungen, bei Statements zu umstrittenen Aktionen.
Und diesen Satz halte ich für eine komplette Lüge.
Und das aus zwei Gründen.
  1. "jede Form": Dazu muss sich eins erstmal überlegen, was Gewalt eigentlich ist. Und Gewalt ist eben nicht nur körperliche Gewalt in Form von Schlägen, Schüssen oder geworfenen Steinen. Gewalt ist erstmal jedes Einwirken auf eine Person (oder ihr Eigentum) entgegen ihres Willens. Da gibt es zum Beispiel eben auch verbale Gewalt. Auch wer eine Person, die einen gerade angerempelt hat, als "Arschloch", "Idiot" oder sonstwas beschimpft, übt Gewalt aus. Wer in einer Diskussion jemanden unter Druck setzt und so zu einem bestimmten Handeln zwingt, übt auch Gewalt aus. Jede Form von Zwang (z.B. Mieter_innen zum ausziehen zwingen, wenn sie die Miete nicht gezahlt bekommen) ist eine Art Gewalt.
    Der Staat übt mit seinem Gewaltmonopol ja auch in vollständiger Legitimation eben auch - wer hätte das gedacht? - Gewalt aus, zum Beispiel durch den Freiheitsentzug durch Haftstrafen. Damit möchte ich mich nicht für die Abschaffung von Gefängnissen aussprechen. Aber wenn jemand meint, JEDE Form von Gewalt abzulehnen, sollte er/sie/es dies tun.
  2. "kategorisch": Ganz ehrlich, das glaube ich nicht. Ich glaube, dass 99% aller Menschen, wenn sie sich in einer dunklen Sackgasse von jemandem, der sie zusammenschlagen möchte, konfrontiert wiederfinden, diese Person wenn nicht schlagen, dann doch weg-/umschubsen würden. Oder es begrüßen würden, wenn in dieser Situation eine andere Person (z.B. eine Polizeibeamte) dies tun würde. Und die, die das in dieser Situation nicht tun würden, würden dann doch höchstwahrscheinlich eingreifen oder ein gewaltsames Eingreifen begrüßen, wenn eben nicht sie, sondern eine wehrlose Person (z.B. ein kleines Kind) bedroht wird.
Zu diesen beiden Punkten könnte ich noch viele Beispiele bringen und Nuancen ausführen, aber ich glaube, die Quintessenz kommt rüber.

Deshalb hört doch bitte auf mit dem verlogenen/unreflektierten Bullshit (ja, hier mache ich mich der verbalen Gewalt schuldig) von "absolutem Gewaltverzicht". Macht euch lieber Gedanken darüber, WAS Gewalt ist. Und diskutiert aus, welche Formen von Gewalt und in welchen Situationen ihr legitim findet. Wie weit der Notwehr/Nothilfe-Begriff zu verstehen ist, usw..
Und wenn ihr nicht möchtet, dass auf eurer Demo Steine geworfen werden, dann sagt das so, statt wohlklingende, aber hohle Phrasen zu dreschen.

14 Kommentare:

  1. Um den Advocat zu spielen, so würden mir nur zwei schwache Argumente einfallen:

    Zum einen ist hier eben Gewalt noch nicht im Galtung'schen Sinne verstanden, so wie du ihn siehst, bei dem auch strukturelle und psychische Gewalt eine Form der Gewalt ist – und dem ich beipflichten würde – sondern eben nur diUm den Advocat zu spielen, so würden mir nur zwei schwache Argumente einfallen:

    Zum einen ist hier eben Gewalt noch nicht im Galtung'schen Sinne verstanden, so wie du ihn siehst, bei dem auch strukturelle und psychische Gewalt eine Form der Gewalt ist – und dem ich beipflichten würde – sondern eben nur die physische Gewalt zu sehen.
    Hierdurch funktioniert auch die Benennung des kategorischen, die hier vor allem wohl als Verstärkung und als Anspruch auf Absolutheit zu sehen ist. Gewalt in Form der notwendigen und minimalistischen Selbstverteidigung, würde hierbei wohl nicht als Gewalt angesehen werden. Das man auch hierdurch sich eine Tür öffnet, das muss ich Dir nicht sagen und kann auch nur noch weiter auf die diffizile Unterscheidung von präventiven und präemptiven Maßnahmen verweisen.

    Zum Kern der Sache so auch noch ein zwei Worte, bei denen wohl ein Adressatenkonflikt vorliegt. "Wir lehnen jede Form der Gewalt kategorisch ab." wann wird dieser Ausspruch am liebsten und häufigsten verwendet? In der Demonstration, auf den Barrikaden, in der aufgewühlten Masse. Welchen Adressat hat ein derartiger Ausspruch für gewöhnlich?
    Ich würde deren zwei benennen, die sich dadurch angesprochen fühlen sollen (drei, wenn man die ‚Gegner‘ einbezieht, doch erachte ich das sogar als zu vernachlässigen und nur mittelbar angesprochen). Zum einen ist es eine Werbewirkung nach außen. Es geht an die Öffentlichkeit, es geht an die Presse und – politikersprech – die Menschen da draußen. Es soll zeigen, dass die Demonstranten zivilisiert sind, dass sie keine aggressiven und bedrohlichen Krawallmacher sind, sondern aufgebrachte Bürger, die ihrer Wut durch zivilen Ungehorsam in eindeutiger und doch friedlicher Weise Ausdruck verleihen wollen. Man soll sich mit ihnen verbunden fühlen, vor allem soll man sich von ihnen nicht bedroht fühlen, sondern sie als den normalen Bürger ansehen.
    Zum anderen ist der Ausspruch auch ein Appel nach innen, an die Gruppe. Eine bitte und dergleichen mehr. Demonstrationen, Menschenmassen können Sturmgewalten sein, die schwer zu beschwören, aber noch schwerer wieder zu bändigen sind und so manch einer der nur wind säen wollte, hat Sturm geerntet. Daher auch die Wirkung, der Appel die Pazifizierung nach innen. Die Leute sollen sich ihre Friedfertigkeit und ihr Auftrag noch einmal ins Gedächtnis rufen, die Ziele sollen klar und möglichst einfach sein, die Demonstranten noch einmal auf dieses Ziel der Friedfertigkeit einschwören.
    All das geht eben nur um eindeutige, wenig klausulierte und einfache Phrasen. Einfache und einprägsame Ziele, die für die Straße, für den Marktplatz geeignet sind. Kenne deinen Adressaten, die sind eben in diesem Fall nicht die Studenten in den Hörsälen der Universitäten, sondern die Studentin in den wogenden und euphorisierten Massen.

    PS: Gustav le Bon, ich nenne ihn immer gerne, den Begründer der Massenpsychologie und seinem Buch „Psychologie des foules (dt. Psychologie der Massen)“. Ein schönes kleines Büchlein, leicht zu lesen, am Anfang der Psychologie noch sehr anschaulich und übrigens und bedauerlicherweise, nichtsdestotrotz erschreckend wie beeindruckend als Anleitung von Hitler und Co. missbraucht.
    e physische Gewalt zu sehen.
    Zum anderen

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    1. Und in einer simpifizierten Realität ist die Erde gar eine Scheibe.

      Gruß vom Oralapostel Edward Bernays oder optional von empathischen Arno Gruen

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    2. Danke für deine "diabolischen" Erwiderungen ;)

      Zum ersten Punkt - ja, aber genau dies zeigt doch, wie wichtig es ist, sich mal mit der Definition des Gewaltbegriffs in einem großen Kreis und entsprechend grundlegend auszudiskutieren. Weil sonst jegliche Auseinandersetzung mit dem Thema in einem Aneinander-Vorbeireden endet.

      Zum zweiten Punkt - ja, gewiss, rhethorisch sind solche Simplifizierungen und Absolutaussagen sicherlich effektiver. Aber zugunsten eines hübschen rhethorischen Effekts unzutreffende Aussagen zu fällen, finde ich dann doch kritisierungswürdig

      Zum P.S. - danke für den Tipp. Irgendwann werde ich's auch wirklich mal lesen :)

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    3. Gustav Le Bon ist längst an den meisten Stellen widerlegt, nur zur Info.

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    4. Ergänzt, verändert, abgewandelt, erweitert etc. trage ich mit.

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  2. Interessante Überlegungen, danke dafür.

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    1. Nichtsdestotrotz ist es unvollständig, denn psychische Gewalt setzt auch die Interpretation durch den Empfänger voraus, wohingegen bei physischer Gewalt dies bereits kommuniziert wird.

      Unter Freunden läuft Kommunikation anderst, als unter Fremden mit denselben Begriffen.
      Von anderen Kulturen will ich gar nicht erst anfangen.
      Du rechnest Dich einer Kultur zu, Dir magelt es an Offenheit bzw. Du bist befangen.

      Das bei Dir sehr gut erkennbar ist und läuft öfter mal aus dem Ruder läuft.

      Emotionale Wut ist etwas anderes als rationaler Zorn, letzterer setzt die die Fähigkeit des Fühlens voraus.

      Gruß Idahoe

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    2. Auch physische Gewalt bedarf einer Interpretation. Wenn ich einem guten Kumpel auf den Oberarm boxe oder er mich in die Seite zwickt, ist es für uns beide ok (weil wir das so geklärt haben). Macht eins dies bei einer Person, die eins nicht kennt, ist es unheimlich übergriffig, unangemessen und Gewalt.

      Und ja, ich bin von einer Kultur geprägt. Das sind wir alle. Der Mensch ist ein soziales Wesen und denkt und handelt immer im Kontext einer Kultur. Was ich jedoch versuche, ist mir dieses kulturellen Bias bewusst zu sein und dies auch offen einzugestehen.

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    3. Da gibt es noch viel mehr darüber zu reden, genau deshalb ist Pauschalpazifismus begrifflich auch nicht haltbar und auch nur eine Behauptung, was anderes sage ich nicht.

      Zumal unter dem Faktor Zeit so manche Handlung anderst bewertet wird.
      Auch die Vergangenheit ändert sich...

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  3. Bullshit ist schon einmal kein brauchbarer Ansatz...

    Zunächst ist doch eine Klärung zu treffen, ob über die Realität ODER die Wirklichkeit geredet wird. Beides sind gänslich unterschiedliche Ansaätze.
    Du vermengst hier und verrührst es unzulässig zu einem Einheitsbrei.
    Staat, Eigentum, Recht, Nationen, Geld usw. basiert auf soziokulturellen Konstrukten der GESCHAFFENEN Realität, mit der Wirklichkeit der Welt/Natur hat dies nichts zu tun.
    Mit ein Grund, warum jeder -ismus an der Wirklichkeit scheitert, alles nur eine Frage der Zeit.
    Wer in der Wirklichkeit angekommen ist, kann über die Realitätsgläubigen nur noch bitter lachen.

    Vielfalt und Ideologie ist ein Widerspruch in sich.

    Die Natur/Welt beruht auf Selbstorganisation.
    Das schlimmste, was einem Menschen angetan werden kann ist AUSGRENZUNG.

    Ideologie mit seinen Idealen, grenzt per Definition aus.
    Das Ideal Platons bedingt zweiwertige aristotelische Logik, das ist hierbei der Witz, daß sie sich eben nicht widersprechen.

    Gruß Idahoe

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    1. In der Kürze liegt die Würze...

      Das sicherste Gefängnis dieser Welt besteht aus gitterlosen grauen Zellen
      Franz Maria Arwee

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    2. Ja, es gibt einen Unterschied zwischen der konstruierten Realität (durch Zeichensprache, Normen usw.) und der ontologischen Wirklichkeit. Aber auch wenn eins in Ansätzen die Realität dekonstruieren kann, so wird ein Sozium und auch ein einzelner Mensch sich stets in einer konstruierten Wirklichkeit bewegen. Den Aspekt des Konstrukts kann eins nicht abschaffen, eins kann nur die Ausgestaltung des Konstrukts ändern.

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  4. Nein, jeder lebt in seiner eigenen Realität, aber es kann logisch nur eine Wirklichkeit geben.
    Diese kann nur ge- und erlebt, aber nicht dargestellt werden. Ansonsten ist Konstruktivismus sich selbst widerlegend, das wußten auch Watzlawick oder Maturana.
    Sprachphilosophie und Semiotik ist nur ein kleiner Ausschnitt.
    In einer Welt der stetigen Veränderung, ist die Normalität veränderlich. Normal ist Veränderung und keine Regeln.
    Wir sind nur in der Lage eine Illusion zu erkennen, durch Flasifikation.

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