Sonntag, 25. März 2012

Alte Sachen

Ein älterer Text (Frühjahr 2010), den ich neulich ausgegraben habe. Heutzutage würde ich ihn sicherlich anders schreiben, den Grundgedanken würde ich aber immer noch unterschreiben. Vielleicht erkläre ich mich selbst in diesem Text besser als mir lieb ist. Vielleicht sind damit einigen von euch einige küchenphilosophische Gespräche mit mir dadurch verständlicher. Urteilt selbst:

O Tempora, O Mores

Wir sind die Generation der Kaputten.
Manche von uns so offensichtlich, dass Sprüche von Klassenkameraden, Lehrern, Eltern, man lande irgendwann noch im Irrenhaus, sich mehr als eine bitter schmeckende Prophezeiung als ein wohlgemeinter Scherz entlarven. Manche tragen das Trugbild des glücklichen und zufriedenen, des lachenden und funktionierenden Menschen so eng auf der Haut, dass das Fallenlassen emotionaler Hüllen und Entblößen von Rissen und Kerben im Ich dem Gegenüber einen wohlgezielten Schlag in den Oberbauch zu versetzen scheint. Manche von uns, sogar der Großteil, wie es scheint, sind noch klaren Verstandes, fühlen sich aber dennoch an den staubig-warmen Klippen des Alltags und des Schicksals zerschellen. Die geschlossene Front der vielfältigen Möglichkeiten, die einem scheinbar alle offen stehen, den meisten Willigen aber mit der flachen Hand der Details und des Kleingedruckten eine brennende Ohrfeige verpassen. Die sich gegenseitig ausschließenden und bekriegenden Forderungen und Ansprüche nach Familie und Karriere, Authentizität und Anpassung, Glück und Tiefsinn. Wer stellt diese Forderungen? Man selbst, die Gesellschaft, das Elternhaus, die Ideale längst verstaubter Bücher? Die Grenzen verschwimmen im Kaledoskop des Bewusstseins.
Wir haben keine Ideale. Gott ist schon so lange tot, dass die Nekrophilen, die sein Bild noch immer anbeten, nicht mehr mit Abscheu als fanatistische Leichenschänder gesehen, sondern eher wie ein Kleinkind, das noch zu jung ist, den Tod der Oma in vollem Ausmaß zu begreifen, traurig belächelt werden. Die Narkose von Dogmen und die Nährlösung für den Verstand, die man auch Bildung und Aufklärung nennt, stehen in einem solchen Verhältnis zueinander, dass man zwar jegliche Ideologien (seien sie politischer oder philosophischer Natur) als inkonsequent, versklavend und die Realität verzerrend erkennt und empfindet, sich aber ohne die Gehhilfe einer Weltanschauung unsicher auf den Beinen und schwindelig fühlt. Man findet kaum noch einen Wert, der nicht im Verlauf der Geschichte als zärtlich lächelnde Maske von machtgeilen Henkern und Folterknechten getragen wurde. Und trotzdem, trotz allem, verwehrt uns der Anspruch, ein moralisch handelnder Mensch zu sein, die Flucht in animalische Triebbefriedigung und Raubtierkapitalismus.

Nicht die Gesellschaft ist schuld. So sehr diese Erkenntnis weh tut, wenn man in das schmerzend blendende Licht der Wahrheit schaut, muss man feststellen, dass bislang eine Gesellschaft noch nie so gerecht, so frei, so fürsorglich war, wie sie es heute in Deutschland ist. Es ist zwar kein Idealzustand, aber dennoch "wir können uns glücklich schätzen heutzutage in Deutschland zu leben". Wie oft wir diesen Satz bereits gehört haben. Aber gerade dieses Mantra ist es, das einerseits jegliche länger andauernde Unzufiedenheit mit der Gesellschaft und alle größeren Veränderungsversuche ausbremst und andererseits jegliches Unwohlsein des Individuums als Luxusproblem erscheinen lässt und uns ein schlechtes Gewissen mit selbiger Leichtigkeit verpasst, wie man nervige Ohrwürmer austeilt.

Man kann hier vieles erreichen. Eine Familie, eine Arbeitsstelle, ein Einfamilienhaus mit Vorgarten, Freunde und ein Sportverein: mit etwas Anstrengung sind es sehr realistische Ziele, für die die Weichen teilweise bereits gestellt sind. Aber glücklich werden? Das ist der Keil, an dem sich unsere Reihen spalten. Die meisten verbieten sich das Grübeln über den Sinn des Lebens und die Suche nach etwas "Reinem" oder - noch drastischer - verlernen komplett alle rudimentären Ansätze des Denkens, die die Schule davor sorgfältig aufzupäppeln versucht hat. Sie werden dann auch tatsächlich mit einem Job, einem nach demselben Prinzip funktionierenden Partner und eventuell zwei Kindern glücklich. Nur wenige gewichten das Denken höher als die Zufriedenheit. Wir sind diejenigen, die gleichzeitig traurig und fasziniert zuschauen, wie andere ihren Verstand, Einheit für Einheit, gegen primitives Glück eintauschen.

Wir sind diejenigen, die solche Texte verfassen.

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