Montag, 9. April 2012

Heilig

Und weil ich es ja versprochen habe, mal wieder ein älterer Text:

Die letzten Weltbilder wurden von einem resigniert-grimmigen Hausmeister, der so ähnlich aussah wie Super Mario, abgeholt. Mit der Weisheit eines vom Leben Betrogenen ließ er Eile und Hektik von sich abperlen. Aber gerade dadurch ging von ihm ein einlullender Dunst von Vertrauenswürdigkeit aus. Ich warf noch einen Blick in das leere Regal, wo von Religionen und Ideologien nur noch dunkel glänzende Flächen auf der traurigen Staubschicht übriggeblieben sind. In der anderen stumpfen Ecke stehen, nein, stapeln sich unaufgefordert geschickte Pakete mit Gefühlen. Noch habe ich Angst sie zu öffnen, habe ich doch selbst erst vor kurzem meine sich windenden Gefühlsknäuel in ähnliche Kartons gepresst, die Kisten schnell zugeklebt und noch lieblos Luftlöcher hineingestanzt. Der Gedanke, dass auch sie jetzt bei ihrem unfreiwilligen Empfänger unangerührt ruhen, füllt warm und zäh wie Karamellsirup meinen Brustkorb.

Gestern gebar mein Briefkasten eine schlichte, fast schon mehlig-ärmliche Karte. Sie überbrachte mir gefasst die Nachricht vom Tod des Übermenschen und lud noch zu dessen Beisetzung in einer Woche ein. Damit trat ein Paragraph meines Mietvertrags in Kraft, den ich ob seiner Unwahrscheinlichkeit für ein absurdes Bürokratiefallnetz gehalten hatte. Ich wohnte auf einmal nicht mehr zur Untermiete, sondern war vollwertiger Mieter meines Zimmers. An sich bloß ein unbedeutender Wandel meiner Stellung, aber eröffnete er mir jetzt die Möglichkeit, die Wände meiner Bleibe nach Belieben zu färben und verzieren. Bloß welche Farbe? Und noch essentieller – was für ein Poster sollte ich aufhängen? Ja, Poster, denn spätestens seit MTV wissen wir doch, dass ein Leben ohne Heiligenbilder der neuen Märtyrer und Schutzpatronen karg und haltlos ist.

Aber wer war mir Götze genug, als dass ich mit seinem Antlitz stets im Blick leben wollte? Hatte ich erst vor kurzem nicht selbst gesehen, wie sich der alternde Superstar Liebe nach langer Schaffenspause wieder in den Blicken der Fans sonnte, aufgedunsen und mit roten Äderchen überzogener Säufernase? War es nicht ich, der erschrocken zurücktaumelte, als ich in einer dunklen Gasse sah, wie der glänzend charismatische Medienmagnat Geld ein kleines Kind vergewaltigte, während das gute Gewissen es festhielt und ihm gut zuredete, während mit jedem Stoß immer rauhere Schreie die kleine Kehle verließen? Und war nicht ich auch Zeuge davon geworden, wie in der Menge der Gaffer, die sich letzte Woche um den vom Hochhaus gesprungenen Selbstmörder, Arme und Beine grotesk zu einem Hakenkreuz verdreht, die angehende Star-Literatin Schönheit stand und voller Innbrunst lachte?

Ich führe ab heute Tagebuch auf meinen Zimmerwänden. Nichts ist heilig. Nur das Wort.

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