Freitag, 27. April 2012

I have seen things...

... unspeakable things.
Oder: von einer, die auszog, um in Mosbach einen Slam zu besuchen.
Manche Erlebnisse lassen sich eigentlich nur mit einem "Dafuq did I just witness?" (Auf deutsch: "Was zum Fick habe ich da gerade erlebt?") beschreiben. Der gestrige Abend war so ein Erlebnis.

Dennoch versuche ich mal zu erzählen, was ich beobachten konnte.

Gestern hat der Jugendgemeinderat Mosbach (ein 24.000-Seelen Ort im tiefsten Odenwald) im Jugenhaus Mosbach den allerersten Mosbacher Poetry Slam organisiert. Und da ich dem Konzept Poetry Slam ja positiv gegenüberstehe (Jugend für Literatur begeistern und so), dachte ich mir, dass da auch mal teilnehmen kann, um so auf meine Art und Weise das Unterfangen zu unterstützen.

Ich fange mit dem Positiven an: es gab keine Comedy-Beiträge.

Die Comedy hat der ganze "Slam" an sich geliefert.

Aus dem Grundsatz "respect the poet" heraus, werde ich hier nicht über meine Co-Slammer und ihre Texte herziehen. So etwas ist einfach nur fies. Und außerdem fand ich einige Beiträge auch wirklich interessant.

Aber die Regeln des Events hatten wenig mit denen von Poetry Slams, wie ich sie bisher kannte, gemeinsam:
  • es waren Gesangsbeiträge erlaubt. Und ich meine damit nicht Rap oder HipHop, ich meine nicht mal eine als Zitat eingestreute, gesungene Zeile: nein, komplette Beiträge wurden (koloraturenreich) geträllert.
  • es war der Vortrag von Texten, die man nicht selbst geschrieben hatte, erlaubt ("Den Text, den ich jetzt singen werde, hat eine Freundin für mich geschrieben" bliebt unkommentiert und unsanktioniert).
  • es gab keine Runden, der Sieger wurde direkt, nachdem man von allen Teilnehmern einen Text gehört hat, ermittelt
  • bei der Bewertung wurde einerseits die Lautstärke des Publikumsapplauses benutzt (so weit so gut). Dazu stand in einer Ecke (!) des Raums ein Dezibel-Messgerät, von dem man zu einem beliebigen Zeitpunkt (!) während des Applauses einen Wert ablas. Wer sich in Akustik und menschlicher Gruppendynamik auch nur irgendwie auskennt, finde bitte die Fehler.
    • der abgelesene Wert wurde dann nach dem Prinzip "Stille Post" an die Juroren weitergetragen. Und ich habe bei zwei Teilnehmern (die weder ich selbst waren, noch die ich irgendwie kennen würde - weshalb ich da als unbefangen gelten darf) mitverfolgen können, wie mal aus einer "91,6" eine "92,6" und mal aus einer "93" eine "91" wurden, ohne dass es korrigiert wurde)
  • andererseits erfolgte die Bewertung auch durch eine Jury (auch so weit so gut). Diese Jury:
    • bestand nicht aus Publikumsmitgliedern, sondern aus drei Menschen, deren Alter jeweils mindestens 30 Jahre über dem Altersdurchschnitt des Publikums lag, und die extra zu diesem Zweck (Jury sein) eingeladen wurden
    • hob nicht etwa (wie man es vielleicht von anderen Slams kennt) nach jedem Beitrag Kärtchen mit einer Zahl darauf, um so die entsprechende Punktezahl zu vergeben, sondern zog sich, nachdem alle Slammer ihre Texte verlesen hatten, in ein Kämmerchen (ja, tatsächlich) zurück, um in einem intransparenten Diskussionsprozess ihre Entscheidung über die Vergabe der ersten drei Plätze zu fällen
    • nannte (nachdem der erste Slam-Teilnehmer seinen Text bereits vorgetragen hatte, aber Chancengleichheit wird ja überbewertet) die Kriterien, nach denen sie die Slam-Beiträge bewerten würden. Diese waren: 
      • Bühnenpräsenz des Slammers (ok, sehe ich ein)
      • Betonung des Vortrags (ja, in der Tat sehr wichtig)
      • wie frei der Text vorgetragen wurde (bitte was? und die ganzen Slammer, die in Heidelberg und Mannheim mit Blättern auf der Bühne stehen, sind alles nur Amateure, ja klar...)
      • ein unscheinbares, aber essenzielles Detail: in dieser Aufzählung fehlt ein Bewertungkriterium. Und zwar der verdammte Text!
    • begründete bei der Siegerehrung ihre Entscheidung mit "das Gedicht mag zwar sehr einfach erscheinen, aber es war so schön frei vorgetragen", "das war ein cooler Rap" und "es kostet viel Mut ohne Musik ein Lied zu singen".
  • und es gab keine Freigetränke für die Slammer ;)
Also, lieber Jugendgemeinderat Mosbach, liebe Jury (v.a. die beiden Damen, die in der Vorstellungsrunde angaben aus dem Kleinkunst- bzw. Bibliotheksmilieu zu kommen und sich so doch in Sachen Literatur auskennen sollten):  ein Poetry Slam ist kein Deutsch-Hausaufgaben-Vortragen, es ist kein Auswendig-Lern-Wettbewerb und auch nicht "Mosbach sucht das Supertalent". Es ist ein Dichterwettstreit, bei dem es um das gesprochene Wort geht, bei dem Menschen Texte, die sie selbst geschrieben haben, vortragen. Natürlich ist es wichtig, den Text (mit Intonation, Präsenz, evtl. auch durch das auswendig Lernen) gut zu verkaufen - in erster Linie geht es aber um Inhalt, Wortwahl und Stilistik des Textes! Ihr könnt ja auch gerne weiter euer Ding durchziehen, als Gesang- und Vortragwetbewerb, aber dann nennt es bitte nicht irreführenderweise "Poetry Slam".

Für die, die mir nicht glauben: hier der Wikipedia-Artikel zum Poetry Slam und hier die Regeln, nach denen in Heidelberg und Mannheim die größten Slams gehalten werden.

Und bitte, bitte, lasst das Publikum den Sieger küren (ob nun mit Applauslautstärke oder durch eine zufällig aus den Zuschauerreihen gewählte Jury, die Punkte vergibt). Es ist ein Jugendhaus, nicht die Schule - wenigstens hier sollten doch die Jugendlichen selbst entscheiden und nicht von Erwachsenen (die ja besser wüssten, was Kunst sei) bevormundet werden können.

Und zu guter Letzte - no hard feelings. Ich habe euch gegenüber schließlich auch keine, der Abend hat mich lachen gemacht und das soll ja angeblich gesund sein.

Und nun kommentiert munter darauf los!

1 Kommentar:

  1. Ich war nicht dabei, aber das klingt tatsächlich etwas abseits von der Idee des Poetry Slams. Hoffe die Kritik ist bei den Veranstaltern angekommen und hat etwas verändert?

    AntwortenLöschen