Wenn ich am helllichten Tag aus dem Traum eines mir vertrauten Unbekannten erwache, wenn ich mir die Regentropfen seines Angstschweißes mit Gewohnheit aus dem Gesicht wische, wenn ich mir im schwülen Sommer mit kälteklammen Händen durch meine wirren Gedanken fahre, im kläglichen Versuch, Knoten und Knäuel zu lösen, was sehe ich dann überhaupt? Vor meinen Augen, vor denen stets der Schleier der Schlaftrunkenheit und Übernächtigung schwebt, tanzt dasselbe Panorama wie sonst auch. Und in meinem üblichen Hybrid aus Hybris Verzweiflung meine ich, dass es nur deshalb so schnell an mir vorbeirast, weil ich renne, meine Beine und Arme wie gut geölte Maschinenkolben nach vorne werfe, um dann mit federnden Füßen auch den Rest von mir vorwärts zu katapultieren.
Aber jetzt, wenn ich die Augen zukneife, als würden Schneesturmnadeln mein Gesicht malträtieren, erkenne ich, dass auch dies Illusion ist. Mein Laufen, meine Schritte sind nichts als zwecklose Zuckungen, während ich horizontal falle. Ich höre die Schwerkraft kichern und blicke in ihre höhnische Fratze, als sie sagt: “Tja, hättest du nicht gedacht, oder?” Ja, das hätte ich nicht gedacht. Hätte ich bloß gar nicht gedacht. Denn aus dem “gedacht” erwachsen nur Gedanken, aber noch lange kein Dach über dem schmerzenden Kopf.
Und meine Kopfgeburten liegen zur Zeit mir zum Trotz alle in Steißlage, setzen sich den Wehen zur Wehr, bis ich vor Erschöpfung schweißgebadet aufgebe und sie in mir absterben und verrotten lasse, bis nur noch die Säfte der Zersetzung übrig bleiben. Was schadet mir ein Gift mehr in meinem Blutstrom? Das Menschenlebensglück, süß, warm, nahrhaft, wie Kakao, erzeugt nicht mehr genug Spannung, um mir als Herzschrittmacher dienen zu können. Immer häufiger setzt es aus, dieses Organ, das mir die Sehnsucht durch den Körper pumpen soll. Und auch wenn es dann wieder einsetzt und weiterschlägt und mir Drängen und Verlangen durch alle Adern strömen, so reicht die Dosis für einen Rausch nicht aus. Am Leben zu sein lindert nur die Entzugssymptome. Auf einen Kick warte ich schon lange.
Dabei zerrt meine Sehnsucht wie ein hungriger Jagdhund an der Leine, wittert in der vom Nebel versteckten Ferne auch Beute, findet aber keine Fährte, so viel sie sich auch im Kreis dreht. Beute, Beute, was könnte mein Sehnen dieses Mal bloß erjagen? Welches ehemals schöne, edle Tier wird sie mir als nächstes blutverschmiert und schlaff vor die Füße legen? Oder lasse ich sie bald auf einen Gegner los, dem sie nicht gewachsen ist, der sie zerbeißt und zu Boden drückt, statt andersrum. Ach Sehnsucht, treudoofe alte Hündin, roll dich doch in der warmen Ecke zusammen, leg die ergraute Schnauze auf die Vorderpfoten und ruh dich doch endlich mal von der ewigen Hetzjagd, vom ganzen Töten aus, du Mistvieh! Aber ich tue dir ja unrecht. Das Täterlamm bleibt unschuldig, auch wenn selbst die Handschellen, in denen es abgeführt wird, an seinen Hufen zu tödlichen Waffen werden. Und dennoch hast du für heute genug gejagt.
Ich werde alleine spazieren gehen. Ich lasse meinen Ausweis, auf dem zwar mein Bild zu sehen ist, der aber von der Frage, wer ich bin, genauso wenig zu erzählen weiß, wie jeder zufällige Passant, meinen Lebenslauf, meine Freundschaften, meine Vernunft, meinen Hausschlüssel, ja, alles lasse ich daheim. Ich werde an den Fluss gehen, um dort im Wasser das Zerrbild meiner selbst zu sehen. Fließen eigentlich alle Flüsse ins Meer? Und wenn ja, erzählen sie sich dann, im großen Mischbecken der Ewigkeit angekommen, von allen Bildern, die sie gesehen haben, vermischen ihre Erinnerungen?
Der Fluss ist groß und ruhig, ausgewogen. Das Plätschern, das ich höre, ist das der Zeit. Das Rauschen sind nicht die mir zuwinkenden Blätter, es ist immer noch der Fahrtwind meines Fallens. Durch alle Netze der Besonnenheit stürze ich hindurch. Es gibt hier keinen Halt. Und die Bilder vor meinen Augen wechseln sich immer schneller ab. Müssen Köpfe rollen, damit meiner aufhört, sich zu drehen?
Samstag, 11. Februar 2012
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