Montag, 6. Februar 2012

Anleitung zum Ich-Sein

Und wieder pirscht sich ein Tag an. Und auch er wird bald damit anfangen, die klägliche Weide des Zu-Erkennenden, des Noch-Nicht-Gedachten abzugrasen. Nach der langen, mühevollen Jagd werden die erbeuteten Gedanken, Einfälle, Erkenntnisse auf einmal so lästig-wertlos, ekeln einen mit der Frage danach, was man mit ihnen eigentlich anfangen sollte, förmlich an. Doch dann sind sie schon längst aus der Lösung der ungestellten oder ungeklärten Fragen ausgefallen, ausgeflockt und weigern sich, sich als Ion wieder im Lösungsmittel des Geistes zu tummeln. Als Ion hatten sie noch eine Ladung, konnten polarisieren, in Strömen durch die Köpfe fließen. Nun, als dumpfes Sediment im Reagenzglas des Bewusstseins, liegen sie da – kristallin und ladungslos. Völlig wert-neutral. Und die Brühe, die in unseren Köpfen schwappt, ist längst keine Elektrolyt-Lösung mehr, nährt nicht mehr, sondern nähert sich in ihrem faden Geschmack immer mehr dem des destillierten Wassers an.

Aber was soll's?

Wir leben immer bunter, immer fröhlicher, immer bequemer. Was früher Wunderwerk der Technik war, steht jetzt in jedem Kinderzimmer. Was heute noch ein Köngsmahl ist, gibt es morgen auch in Ihrem McDonald's um die Ecke. Darf's auch ein Menü sein? Die Elektroengineure tüfteln, die Fließbänder spucken aus, die Marketing-Abteilung macht irgendwas mit Medien – und bald hat jeder statt eines Grabsteins ein iPad mit seinem Facebook-Profil hinter dem bisschen Moder, das er mal war, stehen. Mit Solarenergie betrieben, versteht sich. Der Lebensstandard steigt, der Wirtschaftsindex hebt ab und die Bild-Zeitung holt sich dazu einen runter.

Und was bleibt uns? Ein dumpfer Phantomschmerz in dem, was man früher Seele nannte. Wir sind alle schrecklich individuell, denn dem Mainstream anzugehören ist ja sowas von out. Hast du es etwa nicht gehört: Originalität ist die neue Mode! Deswegen ziehen wir uns die Hornbrillen an, quetschen uns in schwarze Röhrenjeans und kritzeln mit Wegwerf-Kugelschreibern freche Sprüche auf unsere Mäppchen und Eastpack-Rucksäcke. Um allen zu zeigen, wie unaufhaltsam einzigartig wir doch sind.

Dabei ist doch jeder erdenkbare Modus Mensch schon längst in Büchern beschrieben, von mehr oder minder talentierten Schauspielern auf die Leinwand gezaubert oder von den sogenannten großen Persönlichkeiten in die Geschichtsbücher und Biographien-Regale gebracht worden. Egal wie man sich wehrt, man schafft es nicht, sein Leben so über die Bühne zu bringen, dass man kein Abklatsch einer Romanfigur ist. Man kann keinen Gedanken mehr fassen, geschweige denn niederschreiben, ohne damit des Plagiats schuldig zu werden. Bald wird die Frage nach dem “Wie geht es dir?” ehrlicherweise ersetzt werden.
“Bist du heute wieder einem Werk von Kafka entstiegen oder ist heute ein Coelho-Tag?” “Ach, weißt du, mir geht es in letzter Zeit sehr Dostojewski.”

Das Sehen und Begreifen, das Denken gibt es nur noch als geisttiges Wiederkäuen – denn alles wurde schon vorgemacht. Listen and repeat. Je mehr man sich auf die Suche nach intellektuellen Gipfeln macht, die man dann als stolzer Erstbesteiger erstürmen kann, umso mehr fallen einem die Trampelpfade ins Auge. Man ist in einem Labyrinth aus Trampelpfaden gefangen und sogar die als Sackgassen oder Kreisverkehre mit nur einer Abfahrt angelegten Fluchtwege sind liebevoll ausgeschildert, gut asphaltiert und mit Mülltonnen und Aschenbechern versehen.

Eine Anleitung zum Ich-Sein in zehn einfachen Schritten, von Experten erstellt, von führenden Persönlichkeiten empfohlen. 37 Benutzer haben zu diesem Artikel eine Rezension verfasst. Wir erstellen unsere Persönlichkeiten nach dem Mix-and-Match-Prinzip aus allen freiverkäuflichen Alleinstellungsmerkmalen, alles auf dem Grundgerüst aus Plastikglück.

Und immer noch zu stolz, uns unsere kreative Impotenz einzugestehen, durchkämmen wir das leergefischte Meer der Gedanken und Gefühle mit den engmaschingen Netzen unserer engstirniger Geister.
Wenn wir nichts mehr spüren, liegt es eigentlich daran, dass wir von der Flut aus Sinneseindrücken schon überreizt sind, oder daran, dass unsere Nerven vom langen Hungern nach etwas Echtem, nach etwas Wahrem schon längst verkümmert sind? Und macht es überhaupt einen Unterschied?

Die Stunde ist noch nicht zu Ende, auch wenn alle Themen des heutigen Unterrichts schon abgehandelt wurden. Die Erde dreht sich weiter, auch nachdem sie komplett erforscht wurde. Und so bleibt uns nichts übrig als wiedergekäute Wortpampe.

Wie diese hier.

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