Mittwoch, 29. Februar 2012

Frühling


Die grüne Hölle, die vor meiner Tür und unter dem Fenster die Luft in Beschlag genommen hat, stellt sich scheinbar allen außer mir galant als “Frühling” vor. Die totgeglaubten Baumskelette verlieren ihre kahle Schwermut und bedecken sich mit einem leichtsinnigen Überwurf aus zarter, grüner Spitze. Wie von einem stummen Fanfarenruf getrieben, versammeln sich unsichtbare Kräfte zum Kampf gegen die Leere. Eine Schlacht in Zeitlupe bricht aus. Wie die Pocken einer verspielten Seuche bedecken weiße Blüten ganze Baumkronen, regnen in unbedachten Wasserfällen leichter, weißer Schuppen wieder herab.

Im ungeübten, übermütigen Sonnenlicht wirkt es tatsächlich wie die Erstaufführung eines brandneuen Spektakels, doch folgen ihr auch die Neider, umhüllt in dunkelgraue Wolkenmäntel. Wenn das Licht unter dem Himmelgrau erstickt, scheint der Frühling doch in jedem irrsinnigen Spross weiterzustrahlen, bis sich das unvermeidbare, dichte Nass darüber entleert. Die duftende, die dumpfe, die betörende Feuchtigkeit vermischt sich dann mit dem Atem von allem, was blüht und wächst, zum Nebel einer starken Droge. So viel Leben pulsiert und stöhnt überall, sich zu einer grünen Kakophonie vermischend. Viele leise Stimmen verweben sich zu einem undurchdringbaren Klangteppich, der von allen menschlichen Ohren ungehört bleibt.

Die Macht der Natur ist überwältigend. Die Regeln der Kühle, der Stursinn der glatten, leeren Felder – nichts bleibt, alles wird weggefegt von der langsamen, aber unaufhaltsamen Flut des Wucherns. Man bleibt doch so allein und verloren, ertrinkt in den Strömen aus allgegenwärtigem Leben. Das Grün erstickt jede andere Regung und man spürt, um Luft oder um Ruhe ringend, die Kraft, die in der schleichenden Expansion gebannt liegt. So viel Grün, so viele süßlich-schwere Düfte, die doch alle vom Neubeginn erzählen wollen und doch nicht den ihnen anhaftenden Hauch von Verwesung abschütteln können.

Die Hoffnung, die jedem keimenden Blatt zugrunde liegt, will alle vergessen lassen, was mit den gleichen Blättern im letzten Herbst passiert ist. Zu stark ist der Rausch des Vergessens, zu mächtig das Vorwärtsdrängen, als dass Gedanken an die Zukunft dazwischen überleben könnten, geschweige denn Gehör finden. Das Morgen gibt es nicht mehr, nach der langen Haft des Winters wird nun jede Stunde zur Henkersmahlzeit, zu einer Orgie aus letzten Wünschen. Es gibt nur noch die Gegenwart, das betörende Hier und das zuckende Jetzt, jede Sekunde schmilzt, zieht Fäden, verläuft und erstarrt dann zu bröcklig-spröden Stunden, die keiner Erschütterung Stand halten können.

Das Crescendo, das im Klangbauch dieser Tage heranwächst, versteckt sich genauso gut, wie die Wucht, mit der die Veränderungen alles verformen. Man denkt nur bis zur Kulmination, sieht nur das Leben, das als sanft vibrierender Kristallpalast erstrahlt, nicht aber den Schatten des Todes, der versteckt hinter der Bühne dieses Schauspiels ungeduldig auf und ab schreitet und darauf wartet, nach dem Fall des Vorhangs herauszukommen. Auch er hat den Winter im Verließ verbracht und hat Hunger. Unter der Herrschaft des Eises gibt es nur das Nicht-Leben, der Tod aber braucht den schwülen Brutkasten, der ihm seine Untertanen heranzüchtet.

Es bleibt einem nichts, als die wunden Lungen mit dem süßen Pestatem zu füllen und sich davon volltrunken in den Taumel der Verzauberten zu werfen. Lasst uns den Gleichschritt anstimmen in dieser schläfrigen Prozession, die Augen voller Ekstase gen Himmel gerichtet, um den Abgrund, der uns zu Füßen liegt, nicht doch noch zu sehen!

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